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Nach(t)kritik

So, 10.04.2016
20.00 Uhr

Wiederkehren mit Wissen im Gepäck

Veranstaltung: Martin Weiss: Kurdistan-Irak

Eine achtspurige Straße. Neubaugebiete, mit Einfamilienhäusern und Hochhausblöcken. Baukräne neben einem Büroturm. Ein Einkaufszentrum, die „Family Mall“. Und ein althergebrachter Basar, ein Sukh, mit Körben voller Gewürze und Kräuter. Die Fotos zeigen Alltagsszenen aus dem heutigen Erbil, der Hauptstadt der autonomen Region Kurdistan im Irak. Fotografiert hat die Aufnahmen der frühere Referent für Außenpolitik der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag, Martin Weiss. „Kurdistan-Irak“, ist auch der Titel der Ausstellung, die am heutigen Sonntagabend im bosco eröffnet wurde, mit zwei hochbrisanten, sehr aktuellen Vorträgen von Martin Weiss und dem Iraker Abbas al-Khashali, der aus Basra stammt, seit 2000 in Deutschland lebt und als Redakteur bei der Deutschen Welle arbeitet.

„Länder an der Schwelle“ - unter dieser Überschrift beginnt mit der heutigen Ausstellungseröffnung eine besondere Reihe, die Werner Gruban konzipiert hat und die angesichts der globalen Krisen und gravierenden Paradigmenwechsel, die uns derzeit beuteln, einen Blick über den Tellerrand werfen will unter der Fragestellung nach den Ursachen, den Auslösern oder doch zumindest den möglichen Ufern, von denen die alles verändernden Wellen ihren Ausgang nehmen: wo finden sie statt, jene Schmetterlingsflügelschläge, die zu Orkanen werden können?

Zum Beispiel Erbil im Irak. Eine Stadt, in der heute anderthalb Millionen Menschen leben. In der es florierenden Handel gibt, eine Bau-Industrie, ein Goethe-Institut und eine deutsche Schule. Und - seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs im Nachbarland Syrien - Tausende Flüchtlinge, die sich vor dem IS hierherretten. Nicht weit entfernt von dieser und anderen Städten sind noch die von Saddam Hussein niedergebrannten Dörfer mit ihren Ruinen, verbrannte, nicht mehr zu bewirtschaftende Erde - Zeugnisse eines anderen Krieges, noch gar nicht lange her. Auch davon erzählen die Fotos, erzählen Weiss und a—Khashali in ihren Vorträgen. „Die Menschen sind kaputt, zerstört durch die Kriege und das Embargo“, sagt Abbas als-Khashali.

Und dennoch ist Kurdistan-Irak ein Land an der Schwelle, nicht ein Land vor dem Ruin. Es ist bevölkert von Menschen, die trotz ihrer seelischen Narben den Mut und die Energie finden, auf diese Schwelle zuzugehen und sie zu überschreiten in Richtung einer besseren, vielleicht sogar friedlichen Zukunft. „Viele Kurden kommen aus dem Ausland zurück, aus Deutschland, Kanada, den USA, und bringen Know-How von dort mit, das sie sich während ihrer Zeit dort als Flüchtlinge erworben haben“, berichtet Weiss. Aus diesen Kenntnissen resultiert der sichtbare Aufschwung, den die Städte - allen voran Erbil - hier erleben. Aber auch in gesellschaftlicher Hinsicht haben die Menschen Erkenntnisse mitgebracht: eine gewisse Liberalität im Umgang mit der Religion, eine relative Anerkennung der Rechte von Frauen, Interesse an Bildung, Neugierde und Toleranz gegenüber westlichen Lebensformen. All dies mündet in einem großen Selbstbewusstsein, das sich beispielhaft in einem Foto der Ausstellung zeigt: drei junge Frauen schauen mit kritischem, leicht spöttischem Blick auf etwas, das sich dem Betrachter entzieht und das sie mit einer Mischung aus Amüsement und besserem Wissen betrachten. Diese Menschen werden sich nicht mehr lange die Selbstbestimmung vorenthalten lassen. Und das wird ein neuer Schmetterlingsflügelschlag sein in dieser an Orkanen nicht armen Region.

Sabine Zaplin, 10.04.2016


Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.
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So, 10.04.2016 | © Copyright Werner Gruban, Theaterforum Gauting