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Veranstaltungsinfo

Mi, 09.12.2015
20.00 Uhr
Literatur

15,00

Gerd Holzheimer: Das sterbende Schwein - Die abgedrehte Kunstkammer

Kosmos, so lautet der Titel von Alexander von Humboldts Hauptwerk, mit dem Untertitel Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, einem Weltentwurf, in dem er nichts weniger vor hat, als die Welt „en gros und en detail“ in seiner Beschreibung zu versammeln. Das gehört auch zum Prinzip einer Kunstkammer, wie sie in der Zeit der Renaissance entwickelt worden ist: Kosmos auf kleinstem Raum zu verdichten und damit abzubilden. Nach den Abenden über das Christliche Abendland, der Geopoetik der Städte, der Begegnung zwischen Orient und Okzident und den poetischen Flusslandschaften im bosco wird die „Kunstkammer“ der Kunstgeschichte auf eine literarische Veranstaltungsreihe übertragen: der Versuch, eine unüberschaubar gewordene – oder schon immer gewesene – Welt in einem kleinen Modell darzustellen, auf kleinstem Raum, in spielerischer Form, auf höchstem Niveau. Zur Zusammenstellung einer Kunstkammer gehört immer auch schon unabdingbar die unwiderstehliche Lust des Sammlers, alles nur Erdenkliche zu seinem Thema aufzulesen, so auch hier: Nacheinander werden verschiedene Räume einer großen Kunstkammersammlung eröffnet, eine kosmische Kunstkammer, eine komische, eine abgedrehte, eine exotische und schließlich eine erotische. Herzlich Willkommen zur Kunstkammer bosco, der sinnlichen Art, der Welt Poesie abzugewinnen!
In der Kunstkammer des Abgedrehten finden sich einige Herrschaften, die dem Erhabenen durchaus nicht abhold sind, denen jedoch die Nähe des Erhabenen zum Lächerlichen tief vertraut ist. In dem 1746/47 geschriebenen Roman Tom Jones Die Geschichte eines Findlings füllt Henry Fielding diese Nähe gern mit etwas Trinkbarem: „Und Bier, Geselle der Geschichte, /Mildert den ernsten Trübsinn der Berichte.“ Davon kann es kaum zu wenig geben: „Was den Herrn Wirt betrifft, so war Trinken sein Beruf, und der Alkohol wirkte auf ihn ebenso wenig wie auf irgendein anderes Gefäß im Hause“. Laurence Sterne bringt es in seinem ein paar Jahre später geschriebenen Roman Tristam Shandy fertig, seinen Helden im ersten Buch mit knapper Not zeugen zu lassen, im dritten halb und im vierten Buch ganz gebären zu lassen, womit man sieht, wie wichtig dergleichen im Leben eines Menschen ist. Dabei wäre die Zeugung schon beinah missglückt: „Sag doch, mein lieber Mann“, fragt seine Mutter sozusagen mittendrin, „hast du auch nicht vergessen, die Uhr aufzuziehen?“ Was den Vater zu dem Ausruf bewegt: „Hat je eine Frau seit Erschaffung der Welt einen Mann mit einer so dummen Frage unterbrochen?“ Ein Leser möchte gar die Antwort noch einmal erfahren, doch antwortet der Autor mit: „Nichts“. Und Jean Paul darf natürlich nicht fehlen in dieser Reihe – selbst wenn es seinem Zeitgenossen, dem Geheimrath Goethe zu Weimar, etwas aufstößt dabei, wenn Jean Paul nach Weimar kommt und sagt: „Ach, hier sind Weiber!“ Doch auch in Abwesenheit des Jean Paul hat Goethe etwas zu ärgern an ihm: Als ihn das bei Herzogin Amalia permanent im Schlößchen Tiefurt aufgetischte Sauerkraut verdrießt, und er, da sich alle Proteste dagegen als vergeblich erwiesen hatten, sich ins Nebenzimmer begibt – was liegt da? Ein Jean Paulscher Roman, seinerzeit Bestseller-Autor, vor allem aufgrund starker Nachfrage in der weiblichen Leserschaft. Goethe liest etwas darin, springt dann aber auf und ruft: „Nein, das ist zu arg! Erst Sauerkraut und dann fünfzehn Seiten Jean Paul! Das halte aus, wer will!!“ Richtig schön absurd wird es u.a. auch bei Daniil Charms , dessen Texte zum Beispiel so enden: „So dass unklar ist, um wen es hier eigentlich geht. Reden wir lieber nicht weiter darüber.“
 
Nach(t)kritik
Ausgedacht und abgedreht
Nach(t)kritik von Sabine Zaplin
Das Abgedrehte ist ja eigentlich das Fertige, also das, was bereits im Kasten ist. Der Kasten ist an diesem Abend die „Kunstkammer“, und fertig – also richtig fertig, im Sinne von wahnwitzig schräg daneben – sind die Geschichten und ihre Erfinder alle, alles fertig Abgedrehte. Es ging um die erdabgewandte Seite der Komik in dieser „3. Kunstkammer“ im Rahmen der Literaturreihe von und mit Gerd Holzheimer. Oder anders gesagt: „Es geht um nix beim Abgedrehten, und darum kommt auch nix raus.“ Soweit der Erfinder dieser Reihe selber.
Doch es kam jede Menge „raus“ an diesem Abend, eine ganze Karawane voller Geschichten, die Rezitatorin Judith Huber mit sichtlicher Freude am Abgedrehten hinreißend vortrug. Das begann  mit Kurt Tucholskys berühmter Geschichte „Wie kommen die Löcher in den Käse?“, in der Judith Huber sämtliche Figuren der Geschichte und ganz besonders eindringlich den quengeligen Buben liest, spielt, zelebriert. Das ging weiter mit einem Ausschnitt aus Henry Fieldings „Tom Jones“, der sich hier als ein britischer Taugenichts entpuppt und in dem immer wieder der Autor selber aus dem Buch heraus sich an sein Publikum wendet mit nützlichem Hinweisen wie jenem, man möge zum besseren Verständnis sich sogleich eine Kanne kräftigen Bieres zur Lektüre gönnen. Gleichzeitig mit Fieldings „Tom Jones“ ist der großartige „Tristam Shandy“ von Laurence Sterne entstanden, der womöglich noch etwas abgedrehter und neben der Spur ist als eben „Tom Jones“.
Aber auch der deutschsprachige Raum trägt leidlich zur Möblierung dieser Kunstkammer bei. So hat „Das Wildschwein Veronika“ von Gustav Meyrink eine Laien- Aufführung von Wilhelm Tell mit einem Schuhplattler bereichert – ob dieser unfreiwillig geschah, sei dahingestellt. Und ein katholischer Pfarrer aus dem 18. Jahrhundert namens Anton von Bucher war die Entdeckung des Abends, in seinen Texten wimmelt es bereits von Dada-Vorläufern, dass man meinen könnte, die Kunstkammer des Abgedrehten sei seine ureigene Wohnstatt. „Und ich habe gedacht, Sie hätten sich das ausgedacht“, kommentiert Judith Huber ihre Lesung einer ganz ungeheuren „Schluss-Arie“ von Bucher.
Selbstverständlich bietet aber auch der slawische Literaturraum große Schätze an wahrhaft Abgedrehtem. Dass Bohumil Hrabal hier ein höchst produktiver Lieferant von derlei Geschichten ist, wissen die bosco-Literaturfans schon aus vorangegangenen Reihen. Aber ein nach wie vor als Geheimtipp zu betrachtender „vollkommen Abgedrehter“ ist der russische Schriftsteller Daniil Charms, den – wie Gerd Holzheimer nicht vergisst zu erinnern – dereinst Wolf Euba in die Kammern des bosco einführte. Judith Huber liest ein paar seiner großartigen literarisch-schrägen Miniaturen, beispielsweise jene, in der ein Ich-Erzähler beobachtet, wie sich eine alte Frau zu weit aus dem Fenster beugt, hinausfällt und „zerschellt“, gefolgt von weiteren alten Frauen am Fenster mit dem gleichen Schicksal; schließlich ist es der Ich-Erzähler leid und er geht auf den Markt, „wo angeblich ein Blinder einen gestrickten Schal geschenkt bekommen hat“.
All diese kleinen Absurditäten hält ein roter Faden zusammen: eine fortlaufende Erzählung, in der vier Freunde nach Tanger fliegen, um sich dort einer Künstlerkarawane anzuschließen, die eine Wüstendurchquerung plant. Immer wieder wenden sich Holzheimer und Huber den vier Freunden zu, die ein gewisser Hassan in Tanger in Empfang nimmt, wo dann ein anderer Hassan sie weiterführt, bis es nach einer Reihe von Hassans schließlich einem Träger dieses Namens gelingt, die Karawane ausfindig zu machen. Einige Motive der Erzählung geben Anlass zu der Vermutung, dass es sich bei dem Verfasser dieser Geschichte um einen im Würmtal, vermutlich gar in Gauting lebenden Schriftsteller mit einer Vorliebe für das Abgedrehte handelt. „Die Geschichte wurde uns aus dem Orient zugespielt“, kommentiert dagegen Gerd Holzheimer diese Vermutung. Und auch das ist vollkommen abgedreht. Fertig.
 
Galerie
Bilder der Veranstaltung
Mi, 09.12.2015 | © Werner Gruban