Nach(t)kritik
Viel schöner als in Wirklichkeit
Veranstaltung: Christoph Ramm: AnsichtskartenDie „Sehnsucht nach dem Echten“ ist ein Schlagwort unserer Zeit. Es ist nicht verwunderlich, dass Menschen, die einen großen Teil ihres Lebens in virtuellen Räumen verbringen und deren soziale Kontakte zu einem großen Teil in sozialen Netzwerken stattfinden, sich mit der Frage beschäftigen, was denn eigentlich „echt“ ist. Genauso wenig ist es verwunderlich, dass Menschen, die ihre Umwelt zu einem großen Teil in Form von Bildern wahrnehmen und die es gewohnt sind, in Bruchteilen von Sekunden Bilder einzuordnen und in ebenso kurzer Zeit selbst Bilder zu erzeugen, zu verändern, zu manipulieren und zu veröffentlichen, dass für diese Menschen auf einmal wieder das unverfälschte, unretuschierte, am besten analog aufgenommene Foto ein „echtes" Bild ist und dass die analoge Fotografie gerade eine Renaissance erlebt, wie überhaupt eigentlich veraltete Techniken und Alltagsgegenstände auf einer riesigen Retro-Welle dahergeschwommen kommen.
Auch Christoph Ramm, im sogenannten „echten“ Leben Online-Marketingberater aus Gauting, beschäftigt sich mit echten und falschen Bildern. Seine Leidenschaft für Fotografie ist ein Hobby, das er gleichwohl mit großem Anspruch betreibt. Mit seiner Fotoausstellung im Bosco will er unsere Wahrnehmungsgewohnheiten hinterfragen: Kommt ein Bild auf den ersten Blick schön und bunt mit postkartenblauem Himmel daher, ordnen wir es sofort in die Kategorie „Heile Welt“ ein. Die Bildserie „Ansichtskarten“ ist tatsächlich von solchen gnadenlos verkitschten Postkartenidyllen sattsam bekannter touristischer Motive inspiriert. Christoph Ramm zieht alle Register der digitalen Bildbearbeitung, er koloriert, glättet und schärft, was das Zeug hält. Seine „Ansichtskarten“ zeigen jedoch unter ihrer künstlich erzeugten „Heile-Welt-Schicht“ geradezu grotesk hässliche, vom Menschen geschaffene, aber gänzlich menschenfeindliche Lebensräume – die wir jedoch erst bei einem zweiten oder gar dritten Blick als solche wahrnehmen. Wären sie uns über den Bildschirm geflimmert, hätten wir sie längst weggeklickt.
Jetzt aber hängen sie in all ihrer unsäglichen Buntheit und mit all ihren vermeintlichen Bearbeitungsfehlern, die diesmal freilich als Stilmittel eingesetzt werden, im Treppenhaus und im Foyer. Die Besucher werden sich vor ihnen unweigerlich stauen und sie werden länger hinschauen müssen. Und wer lang genug hingeschaut hat, der wird nie wieder einen Rummelplatz besuchen wollen, er wird nie wieder unbedarft durch urbane Un-Landschaften laufen und erst recht wird er niemals auf die Zugspitze hinauffahren, wo die Notwendigkeiten der touristischen Gewinnmaximierung einen „ästhetischen und ökologischen Totalschaden“ aus Beton und Glas angerichtet haben – und ganz offensichtlich immer noch weitergebaut wird, obwohl man vom eigentlichen Berggipfel schon lange nichts mehr sieht. Aber Christoph Ramm will, wie gesagt, nicht in erster Linie kritisieren, dass wir uns so hässliche Orte geschaffen haben und uns an solchen Orten aufhalten, als wären sie unvermeidlich – er will kritisieren, dass wir uns so unbedarft von Bilder täuschen lassen. Er kommentiert mit diesen Bildern auch zeitgenössische sogenannte „Fine-Art“-Fotografie, die Motive bis zur Unkenntlichkeit „optimiert“, damit sie den gängigen ästhetischen Ansprüchen genügen – und er kommentiert durchaus mit Schärfe, die freilich ebenfalls erst im Nachgang, dann aber umso heftiger zu spüren ist.
Ästhetische Spielereien sind im Gegensatz dazu die Bilder aus der Serie „Reflexionen“. Sie sind zwar in technischer Hinsicht „echte“, das heißt weitgehend unbearbeitete Bilder, aber sie überwinden gleichzeitig eine im „echten“ Leben unüberwindbare Barriere aus Glas: Christoph Ramm fotografiert Spiegelungen, etwa von zwei nebeneinander stehenden Zügen, sodass Menschen in einem real nicht existierenden Raum vereint werden.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.