Nach(t)kritik
Alltag mit den anderen
Veranstaltung: Vortrag zum Themenschwerpunkt: "Jüdisches Leben ein Jahr nach dem Massaker der Hamas" von Thies MarsenWer einen Menschen rettet, der rettet die ganze Welt - lautet eine Weisheit aus dem Talmud. Sie könnte aktueller nicht sein. Denn Retten heißt nicht immer nur, jemanden aus einer tödlichen Bedrohung zu retten. Rettung vor Hass, Diskriminierung, vor Intoleranz und ja: auch vor Dummheit hat die Welt nötiger denn je. Das war eine der Erkenntnisse, die am Ende des Vortrags von Thies Marsen standen. Der BR-Journalist und Experte für Antisemitismus sprach im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Jüdisch. Deutsch. Ganz normal“ über jüdisches Leben ein Jahr nach dem Massaker der Hamas. Dabei sprach er nicht nur als Experte, sondern - und das machte seine Ausführungen so besonders und unmittelbar einleuchtend - als Nachbar und Freund von Noah Cohen, dessen Fotoausstellung im Zentrum der Themenreihe stand. Er sprach als Ehemann und Schwiegersohn von zwei jüdischen Frauen. Und er sprach als Kind eines Hauses, in dem die NS-Vergangenheit der Grosseltern-Generation ihre Spuren hinterlassen hat - auch für ihn als Journalisten, der sich mit diesem Erbe kritisch auseinandersetzt.
Worüber sprechen wir, wenn wir über jüdisches leben in Deutschland sprechen? Dieser Frage ging Marsen als erstes nach und schlug einen kurzen historischen. Bogen von der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart. Denn die Menschen, die das jüdische Leben nach 1945 hierzulande in den Gemeinden wieder belebten, waren Überlebende der KZ, waren zum Teil aus ihren osteuropäischen Heimatorten nach dem Krieg ein weiteres Mal teils mit blutigen Pogromen vertrieben worden oder als sogenannte Displaced Persons ohne Papiere in Deutschland gestrandet. Die meisten betrachteten diesen Ankunftsort zunächst als Durchgangsstation, als „Wartesaal in die Freiheit“, doch nicht allen gelang es, nach Israel zu emigrieren. Der dort von der UNO gegründete Staat, der gleich zu Beginn von seinen Nachbarn angegriffen wurde, benötigte zwar viele junge Männer, um sich verteidigen zu können, doch längst nicht alle Überlebenden durften einwandern. Und während in Israel die gerade den KZ entkommenden jungen Menschen erneut in einen Krieg gerieten, saßen die anderen noch im Land der Täter und mussten sich jeden Tag aufs Neue fragen, welche Rolle die Bäckerin, der Trambahn-Nachbar, die Postboten während des Zweiten Weltkriegs eigentlich gespielt haben.
Der Antisemitismus in Deutschland war mit dem Kriegsende nicht überwunden. Seit 1945 gab es über 2.000 Schändungen jüdischer Friedhofe, neben verbalen Anfeindungen, die sich nicht zählen lassen. Antisemitische Übergriffe von rechten Terrorgruppen fanden statt, seit den späten Sechzigern aber auch von linker Seite. So ist der bis heute nicht aufgeklärte tödliche Brandanschlag auf das jüdische Altenheim in der Münchner Reichenbachstraße vermutlich einer linken Terrorgruppe zuzurechnen. „Jüdisches Leben in Deutschland ist immer gefährdet“, sagt Thies Marsen. Und seit dem Hamas-Attentat am 7. Oktober 2023, das von seiner Zielsetzung her ein rassistisches Massaker gewesen ist, haben antisemitische Straftaten in Deutschland in erschreckendem Maße zugenommen.
Was Jüdinnen und Juden in Deutschland besonders getroffen hat, war, dass ein großer öffentlicher Aufschrei ausgeblieben ist. „Es sind keine Hundertausend auf die Straße gegangen, wie nach dem Überfall auf die Ukraine“, resümiert Marsen und zitiert die Journalistin Esther Shapira, die dieses Schweigen als besonders bitteren Verrat vermeintlicher politischer Weggefährten empfunden hat. Es gilt zu unterscheiden zwischen den politisch Handelnden im Nahost-Konflikt und den Menschen, die immer auf der Seite der Leidenden stehen. So muss neben dem einen Menschen, dessen Rettung die ganze Welt rettet, vor allem auch die Menschlichkeit selber gerettet werden.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.