Nach(t)kritik
Am G-Punkt
Veranstaltung: Lars Reichow: LustAls Lars Reichow im vergangenen Jahr mit seinem Programm „Freiheit“ im bosco gastierte, bescheinigte der „Nach(t)kritiker“ dem damals 52-Jährigen, dass jener „noch aus der Zugabe Funke zu schlagen“ verstehe – Reichow hatte damals eine Art „Drohkulisse“ des nicht enden wollenden Künstlerauftritts entfacht, samt der Inaussichtstellung, sein Publikum notfalls bis nach Hause verfolgen zu wollen, wenn es nicht genug kriege. Nun, knapp ein Jahr später, war Reichow mit seinem neuen Thema „Lust“ vor Ort, und auch diesmal schickte sich der „Meister des Alltags“ an, die Dinge genussvoll in die Länge zu ziehen: Reichow quälte die ihm eigentlich recht wohlgesonnenen Zuschauer (wie auch den nämlichen Kritiker) am Schluss erneut mit einer Einlull-Nummer am Keyboard, die in Endlos-schleife zum Mitsingen den Refrain „Lalalalalala“ strapaziert und im Grunde nur noch Text-Banalitäten transportierte. Ein Fadeout im Stretch-Format, das wie ein Tranquilizer wirkte und die Leute offenbar runter holen sollte vom zuvor erreichten Pointen-Niveau.
„Lust“ gemacht auf „mehr Reichow“ hatte der Künstler vor allem im ersten Teil des Abends: Was zum Beispiel passiert - oder auch nicht passiert -, wenn die beiden Teilnehmer einer Mittelgewichtsehe beim gemeinsamen Fernsehschauen durch die Bildschirm-Erotik jäh animiert werden, ins Schlafzimmer zu wechseln, ist ähnlich unterhaltsam wie die weniger lustvollen Erfahrungen mit traumatisierten Hunden aus Osteuropa: „Wir züchten deshalb jetzt selber Stretch-Dackel, auf denen bei Kindergeburtstagenn bis zu 25 Kinder sitzen!“ Reichow wahrt die Balance: Das Welpen-Elend dubioser Züchter kommt bei ihm genauso an die Reihe wie übertriebenes tierschützerisches Engagement zu Gunsten von „verschütteten Wühlmäusen“. Seine Lieblingsstrategie als Kabarettist ist der aus dem Gewöhnlichen heraus entstehende Super-GAU, das Monströse im Alltag. Und wenn Reichow so einen Text auf die Spitze getrieben hat, kommt zuverlässig wieder eine Art Sedativ in Form von Liedern am Piano oder Keyboard. Diese Songs sind gelegentlich auch mal munterer („Heute wird ein schöner Tag...“), aber man weiß nie so genau, ob das nun parodistische Fingerübungen sind oder ernst gemeintes Liedgut mit Herz.
Ernst ist es Reichow vor allem dann, wenn er ein Lieder an die AfD-Wählerschaft adressiert und deren notorische Desinformiertheit („Wenn du das alles glaubst“). Oder wenn es gegen Trump, Putin, Erdogan zu wettern gilt. Leider rennt er damit allzu offene Türen ein und wirkt dann trotz scharf gewetzter Terminologie pathetisch wie ein Messias – und doch denkt man: Es wird schon nötig sein in diesen Zeiten des abnehmenden Lichts...Reichow scheint eine Mordswut in sich zu tragen, und seine Ansagen auf der Bühne könnten ein Stück weit ganz persönliches Auskotzen bedeuten. Gut, dass überwiegend brillantes Entertainment dabei herauskommt: Die in Kardinalrot vorgetragene Nummer vom sinnenfreudigen Kanzelprediger, eine Mischung aus Mainzer Büttenrede und Katholiken-Verarsche, passt sehr schön zum Leitthema „Lust“und ist einfach großartig: „Christal Mess´“ fasst der angeschickerte Kirchenmann das alles zusammen und lässt nicht unerwähnt, dass er auch „Pretiosen aus unserer Nachbardiözese in Amsterdam“ konsumiert.
Dann wieder kehrt Lars Reichow zu seinen Alltagsbeobachtungen zurück, berichtet von den ersten Smartphone-Erfahrungen seiner Mutter („Woher weißt du, dass ich gerade beim Aldi bin, wenn du mich anrufst?“), die noch immer „in festen Netzen denkt“. Kramt wieder seine markerschütternde „Je t´taime – moi non plus“-Version aus (im Vorjahr als Zugabe gebracht) und deutet das Gestöhne im Song neu als „irgendwas mit Wäsche“. In solchen Momenten ist Reichow auf dem infernalischen Höhepunkt seiner Kunst, um nicht zu sagen am G-Punkt angelangt. Und auch das tagespolitishe Geschehen kommt nicht zu kurz: Angela Merkel wird treffsicher als „Saloon-Kitty“ beschrieben: „Duckt sich hinterm Tresen, und wenn sich alle über den Haufen geschossen haben, kommt sie wieder hervor und geht mit dem Sieger ins Bett.“ Die SPD? Eigentlich eine gute Idee: „Wenn die auch noch Wähler hätten!“ FDP-Lindner? „Muss aufpassen, dass er nicht als politischer Lackaffe in die Geschichte eingeht.“ Tja, und dann wären da noch Europa, das Diesel-Drama und dieser „Kindkanzler“ aus Österreich – sauber abgearbeitet, aber immer im Tonfall eines ernsthaften persönlichen Statements, Reichows Leiden an dieser Welt muss noch gewachsen sein seit 2017. Alles in allem erneut ein ziemlich lockerer Abend voller Geniestreiche, aber auch mit gelegentlichen Durststrecken. Dem Mann am Klavier wäre zu wünschen, dass er sich wieder stärker aufs Anarchische besinnt als aufs Zeigefinger-Heben. Das muss ja noch lange nicht Comedy-Niederungen bedeuten, aber das Auf-die-Spitze-Treiben, wie Reichow es vollendet beherrscht, ist letztlich wohl wirksamer als das Wort zum Sonntag.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.