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Nach(t)kritik

Do, 30.04.2015
20.00 Uhr

Das hohe Haus taumelt - Roger Willemsens riskanter Selbstversuch

Veranstaltung: Roger Willemsen: Das hohe Haus
Ein Jahr im Deutschen Bundestag, zwischen Neujahrsansprache der Kanzlerin und Neujahrsansprache der Kanzlerin, zwischen „Lassen Sie mich das sagen“ und „Ich sage das hier ganz deutlich“. Ein Jahr auf der Tribüne, dort, wo der Souverän sitzt und zuhören darf, was die von ihm gewählten Volksvertreter tun mit dem ihnen gegebenen Vertrauen, für das sie in Wahlzeiten so vehement geworben haben. Ein Jahr im Parlament, im „Hohen Haus“ : Roger Willemsen hat aus seinem Buch gleichen Titels ein bühnenreifes Programm gestaltet, das er im nahezu ausverkauften bosco zusammen mit der Schauspielerin Annette Schiedeck - die an diesem Donnerstag Geburtstag hatte – und dem Hörfunk-Moderator Jens-Uwe Krause vorstellte.
Ein Experiment, ein Feldversuch. Es ging darum, herauszufinden, was sich im Prinzipiellen ereignete in diesem Haus, nicht im Aktuellen. Das Aktuelle berichtet in Auszügen und wohldosiert das Fernsehen oder das Radio, etwas ausführlicher die Zeitung. Das Prinzip des Parlaments offenbart sich nur dem, der genügend Sitzfleisch für ein ganzes Jahr mitbringt. „Ich habe für Sie gelitten, meine Damen und Herren“, erklärt Willemsen, „speziell im rektalen Bereich.“ Monat für Monat, Woche für Woche, Tag für Tag hat er die Debatten verfolgt, und so ein Tag kann durchaus einmal bis tief in die Nacht hinein dauern. Kann mit Lebensmittelskandalen und dem Schutz vor denselben beginnen und bei der Ganztagsbetreuung enden. Kann grundsätzlich werden wie bei der Frage nach dem Umgang mit Abhörskandalen, wird immer wieder emotional, allerdings seltener bei Themen, die unter die Haut gehen. Doch menschlich, berührend menschlich – so offenbart es das Programm von Willemsen, Schiedeck und Krause - geht es hier nicht zu. Diejenigen, um die es gehen sollte in einem Parlament, kommen nicht vor, werden allenfalls verwaltet, verortet, eingeordnet. Nichts demonstriert dies so eindeutig wie die Neujahrsansprachen der Bundeskanzlerin. „Manifestationen ritueller Zwecklosigkeit“ nennt Roger Willemsen diese exakt getaktete Ansammlung von Worthülsen und zitiert in diesem Zusammenhang die Forderung des Angelus Silesius, „Mensch, werde wesentlich“, die er in Bezug auf Angela Merkel umkehrt in ein: „Wesen, werde menschlich.“
Gerade die Abwesenheit des Menschlichen ist es, die offensichtlich zum Prinzipiellen des Parlamentes geworden ist. Das mag am Wesen der parlamentarischen Demokratie liegen, das sich im Laufe seines Heranreifens hierzulande zu einem Debatten-Ungetüm verwandelt hat, dem die Tagesordnung und deren Einhaltung wesentlicher zu sein scheint als die darin verborgenen Inhalte. Das mag auch an parlamentarischen Eigenheiten wie Fraktionszwang, Wahlkampfverhalten oder dem Taktieren liegen, die ihre ganz eigenen Spielregeln haben, die mehr büro- denn demokratisch sind. Das liegt nicht zuletzt an der ganz besonderen Parlamentssprache, die in mehrheitsorientierten Redezeiten stattfindet und eigenen grammatikalischen wie stilistischen Regeln zu genügen hat. Das führt in letzter Konsequenz zu einem reinen Bewegen der Saalluft beim Sprechen, so wie es die Kanzlerin praktiziert: „Sprache hat kein Zuhause im Mund unserer Kanzlerin“, konstatiert Willemsen.
So unterhaltsam der Abend auf der einen Seite ist – selten gibt es Unterhaltsameres als das, was die von uns gewählten Volksvertreter an ihrem Einsatzort Parlament so von sich geben - , so traurig ist das, was er dem Publikum entdeckt: dass das Hohe Haus unter seinem Dach eine Gruppe von Menschen vereint, die in erster Linie sich selber feiern. Es ist ein Fest ohne Inhalt, ohne Glanz und vor allem ohne menschliche Züge. Bezeichnenderweise ist der einzige menschliche Augenblick, an den Willemsen in seinem Programm erinnert, einer, in dem eine Abgeordnete beinahe ihr Leben verliert: vom Bundestagspräsidenten dazu ermahnt, sie möge bitte zum Schluss kommen, sagt sie „Das Leben ist schön“, geht zurück an ihren Platz und erleidet dort einen schweren Schlaganfall. Und da ist es auf einmal: das Leben. Schön kann es sein, gefährdet ist es immer. Es zu schützen, in all seiner Besonderheit, ist die nobelste Aufgabe eines Abgeordnetenhauses. Doch wo Wahlstimmen in Urnen landen, ist nicht mehr viel Wissen ums Leben zu erwarten.
Sabine Zaplin, 30.04.2015


Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.
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Do, 30.04.2015 | © Werner Gruban