Nach(t)kritik
Dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand reichen
Veranstaltung: Tanztheaterprojekt: Nr. 03„Ihr werdet so lange jung bleiben, solange ihr aufnahmebereit bleibt: empfänglich fürs Schöne, Gute und Große. Empfänglich für die Botschaften der Natur, der Mitmenschen, des Unfasslichen...“ Kaiser Marc Aurel schrieb einst „über das Jungsein“, was das Tanztheaterprojekt Nr. 3 und auch schon seine beiden Vorläufer 2014 und 2015 eindrucksvoll in die Tat umgesetzt haben - mit dem Untertitel „Nicht müde werden“ gelang Choreographin Bettina Fritsche, ihrer Assistentin Valerie Neher und den diesmal 20 Tänzerinnen und Tänzern „über 60“ nicht weniger als der Beweis der Aurel´schen Worte. Nach „Bewegtes Leben 2068“ und „Gratwanderer“ nun also Teil 3 einer nicht als solche geplanten Trilogie, die nun das vorläufige Ende einer Entwicklung markiert. War man bei Teil 1 und 2 „noch viel vom persönlichen Erleben und Empfinden ausgegangen“, so Fritsche, sollte es diesmal einen anderen Ansatz geben – nicht die Geschichten würden am Anfang stehen, „sondern die Musik, aus der die Geschichten wachsen“. Kompositionen des Louis XIV-Zeitgenossen Jean-Baptiste Lully und des Finnen Einojuhani Rautavaara waren die Ausgangspunkte für dieses Abenteuer: Formale Vorlagen, mit denen das Ensemble assoziativ umgehen und tänzerische Reibung erzeugen konnte: Als charmanter Gruß an die große Pina Bausch und ihren inspirierenden Einfluss wurde zu Beginn das berühmte „Dritter Mann“-Motiv des Zither-Spielers Anton Karas für einen „winkenden Einzug“ der Akteure genutzt, das machte schon mal Appetit auf mehr. Die höfische, menuettartige Musik Lullys diente dann als Blaupause für tänzerisches Hinterfragen von Rollenmustern und für tableau-artige Momente des Innehaltens: Wer zu Zeiten des Sonnenkönigs buchstäblich „aus der Reihe tanzte“, so könnte die Botschaft lauten, der musste sich vorsehen – Fritsches mutige Frauen und auch ein mutiger Mann zeigten immer wieder, dass man aus einem zeremoniellem Korsett auch mal ausbrechen kann und wie es aussieht, wenn man zu Spinett-Klängen „Freistil“-Bewegungen macht. Anarchie gegen Konvention, Individuum gegen Herdenzwang – erfrischend.
Dann die Kompositionen des stark an Naturklängen angelehnten "modernen" Finnen Rautavaara: Plötzlich steht da ein „Wald“ aus Leibern auf der Bühne, wogt eine „Wiese“ sachte im Wind. Vogelgezwitscher, Flötentöne, ein atmender Organismus. Wie schon zur Musik von Lully wird der oder das Einzelne oder auch ein Paar in Beziehung gesetzt zum Ganzen, zum „Ensemble“: Leben wird mit Tod konfrontiert, Erblühen mit Verhüllung, kollektive Gefühle sichtbar gemacht, aber auch die Mechanismen der Gruppe – Empathie, Kontrolle, Ängste, Geschlossenheit. Fritsches Choreographie und ihre Tänzer erschaffen bewegte Bilder, die haften bleiben. Bilder, die zu erschaffen es einigen Mut und auch Grenzüberschreitungen brauchte – und so wird nicht nur das Aurel-Wort zur zeitlos gültigen Wahrheit, sondern auch die weise Ermutigung einer Hilde Domin: „Nicht müde werden, sondern dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinhalten...“ Tosender Applaus für das dritte und leider wohl auch letzte Mirakel des Tanzprojekts, das am Sonntag, 12.Juni, 17 Uhr, noch einmal zu erleben ist.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.