Nach(t)kritik
Die Überschienung des Augenblicks
Veranstaltung: Gerd Holzheimer: Nur der Not keinen Schwung lassen (Teil 3)Glaubt man den zahlreichen Umfragen die TV- und Radiosender sowie die Print- und Online-Medien derzeit nicht müde werden zu zitieren, so hat eine nicht gerade kleine Bevölkerungsgruppe derzeit große Angst vor der Zukunft. Tatsächlich sind die Zeiten nicht einfach: der nicht enden wollende Krieg in der Ukraine, das Geschehen in Israel und in Gaza, dazu der Klimawandel und seine immer dramatischer und immer spürbarer werdenden Folgen stimmen nicht unbedingt optimistisch. Würde man die Weltlage mit einem Individuum vergleichen, so läge der Schluss durchaus nahe, dass es sich bei diesem um einen Patienten mit schlechter Prognose handelt. Und doch wagt dieser Patient - in vielen verschiedenen Formen und Varianten - ein geradezu trotziges „Jetzt erst recht!“ oder zumindest ein beherztes „Jetzt!“.
„Jetzt“, lautet auch das Motto des dritten Abends in der Literatur-Reihe „Nur der Not keinen Schwung lassen“, in der Gerd Holzheimer gemeinsam mit dem großartigen Sprecher Hans-Jürgen Stockerl einen Streifzug durch literarische Beispiele unternimmt, die Menschen mit diesem unbedingten Willen zur lebendigen Gegenwart zu Wort kommen lassen. Stellvertretend für alle sei die Geschichte des fast hundertjährigen Wenzel Winterberg genannt, den der 1972 geborene tschechische Schriftsteller Jaroslav Rudis in seinem Roman „Winterbergs letzte Reise“ gemeinsam mit seinem Altenpfleger Jan Kraus auf eine Reise quer durch Europa schickt. Eigentlich isrt Winterberg, ehe die beiden aufbrechen, dem Tode näher als dem Leben, und damit ihm die letzte „Überfahrt“ ins Jenseits leichter fällt, schickt seine Tochter ihn gemeinsam mit dem jungen Mann los zu den Orten, die Winterberg etwas bedeutet haben - allen voran Königgrätz. Denn jene Schlacht, die sich dort im Jahr 1866 ereignet hat, ist für Winterberg der Dreh- und Angelpunkt der jüngeren Zeitgeschichte, vielleicht sogar jener Moment, in dem „es angefangen hat zu bröckeln“.
Hans- Joachim Stockerl liest diese und die anderen literarischen Auszüge so empathisch und geradezu plastisch, dass vor dem inneren Auge der Zuhörerinnen und Zuhörer die Geschichten lebendig werden können. Man sitzt mit Kraus und Winterberg im Zug und bedauert, dass nicht alle Konflikte dieser Welt einfach „überschient“ werden können. Man streift mit dem jungen Ludwig Ganghofer durch die nächtliche Maxvorstadt und zittert mit dem frechen Nacktbader vor dem Polizisten, der ihn aus dem Universitätsbrunnen herauszitieren will. Denn die Unbedingtheit und Frechheit des jungen Mannes ist jener des Hundertjährigen nicht unähnlich: beide setzen auf den Augenblick und die Tatsache, dass dieser so niemals wiederkehren wird.
Die besondere Würze der Literaturabende mit Gerd Holzheimer sind seine hinreißend erzählten Extempores zu den ganz privaten jeweiligen Bezügen, die ihn mit der vorgestellten Literatur verbinden. So galt er zu seiner eigenen Überraschung aufgrund der Tatsache, dass er mal ein Nachwort zu einer Ganghofer-Ausgabe verfasst hat, lange Zeit in manchen Literaturredaktionen als ausgemachter Ganghofer-Experte. Als solcher wurde er mal zu Dreharbeiten für die Sendung „Zwischen Spessart und Karwendel“ eingeladen und sollte am Gartentörchen vor der Hubertus-Alm, die Ganghofer gehörte, auf einen Moderator warten. Die Situationskomik wollte es, dass dieser eher seriös und zudem edel gekleidete Mann immer wieder auf demselben Kuhfladen ausrutschte, was den „Ganghofer-Experten“ zu solchen Lachanfällen hinriss, dass die Dreharbeiten sich in die Länge zogen und schließlich noch von einem Gewitter samt Platzregen unterbrochen wurden, wobei das teure Designer-Sakko des Moderators ein Opfer des Wolkenbruchs wurde. Dieser so nicht zu inszenierende und wohl auch nicht zu wiederholende Augenblick hätte sowohl dem frechen Nacktbader als auch dem quer durch Europa reisenden Hudertjährigen gefallen - nur der Not keinen Schwung lassen!
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.