Nach(t)kritik
Duschgleitstange
Veranstaltung: Lars Reichow: IchGanz am Ende des Abends verstand man erst, warum Lars Reichow sein Programm „Ich!“ betitelt hatte, und dies sogar mit einem Ausrufezeichen: Dem aus Mainz kommenden Kabarettisten war es nach fast zweieinhalb Stunden gewohnt lockerem Entertainment buchstäblich eine Herzensangelegenheit, sich zum russischen Angriffskrieg in der Ukraine zu äußern – und Reichow bettete seine schonungslos kritischen Worte auch noch in feierliche Keyboard-Klänge, als lausche man auf einmal der Bergpredigt. Das bosco-Publikum, eben noch heiterer Stimmung, hielt den Atem an, manche schienen sich überrumpelt zu fühlen von so viel jäher Ernsthaftigkeit – musste das jetzt sein? Wenn man diesen Künstler schon öfters erlebt hat, hätte man durchaus darauf gefasst sein können, denn hinter Reichows Themen und Überschriften lauerte bereits in den früheren Programmen stets das Chaos, der mögliche Untergang, das schier Undenkbare. Wenn er sich nun des nicht für möglich gehaltenen menschlichen Grauens in der Ukraine annahm und seine zuvor noch bestens unterhaltenen Zuschauer quasi kalt abduschte, ehe er sie in die Gautinger Dezember-Nacht entließ, dann war das für manchen höchst unbequem, im Grunde aber nur konsequent. Die Botschaft Reichows: eine drastische Unterscheidung zwischen wichtigen Dingen und den unwichtigen, zwischen den häufig banalen Konflikten unseres kommoden Alltags und dem ganz realen Sterben in einem Land, das sozusagen „nebenan“ liegt. Es war ein dramatischer Appell an die Menschlichkeit und ein Aufruf zu praktischem Handeln – nehmt das, ihr gut gelaunten Gautinger!
Es fällt nach einem solchen Ausrufezeichen nicht eben leicht, die vorher gelieferte Unterhaltungsleistung des Künstlers angemessen zu würdigen: Reichow, seit 2017 zum dritten Mal im bosco zu Gast, begeisterte die Leute eigentlich vom Start weg, hofierte Gauting auf schön übertriebene Weise („Eine der schönsten Schneisen, die jemals in einen Kiefernwald geschlagen wurden“), adelte den Kabarett-Abonnenten als den „Mercedes unter den Kulturgästen“, denn es liegen ja auch noch pandemisch beschränkte Jahre hinter uns. Dass seine Heimatstadt Mainz neuerdings Dank „BionTech“ im Geld schwimmt und ein „Gewerbesteuerauffangbecken“ benötigt, ist bei Reichow komisch ausgebeutete Tatsache; dass er unverbesserliche Deutschtümler zart darauf hinweist, dieser Geldsegen sei auch eine „Frucht der Zuwanderung“, konkret zweier genialer Forscherpersönlichkeiten aus der Türkei, ist die ernste Seite der Medaille.
Zurück zu den Pointen: „Es ist noch nicht spruchreif, aber wir werden Wiesbaden kaufen“, gibt der Määnzer bekannt.
Zwischendurch setzt Lars Reichow sich in bewährter Manier ans Piano oder ans Keyboard, um den Denkapparat des Publikums zu entspannen. Meist intoniert er dabei Romantisches, als würde diese Säusel-Form am besten die Doppelbödigkeit der Lied-Texte transportieren. Oder er dreht, wie schon in früheren Programmen, wieder mal den Stöhn-Klassiker „Je t‘ aime – moi non plus“ von Serge Gainsbourg/Jane Birkin aus dem Jahre 1971 durch den Wolf, bis kein Auge trocken bleibt. Ohne „Musik“ nimmt er sich des Fitness-Wahns an, berichtet davon, dass er sich „Weißmehl-Produkte im Darknet bestellen“ müsse, weil sich die eigene Tochter zur Gesundheitspolizistin entwickelt habe und ihm nachts am Kühlschrank auflauere.
Reichow ist, als Vater von vier Kindern, ganz klar auch Familien-mensch, was ihn nicht hindert, auch hier das mögliche Grauen zu erahnen. In solchen Momenten kommt auch wieder das „Ich!“ mit dem Ausrufezeichen ins Spiel: Reichow hasst die laue, weicheierige Kompromiss- und Konsens-Kultur. Er lässt kein gutes Haar an „Brexit“-Großbritannien und seinen degenerierten Royals, empfiehlt die russische Sprache als „beste Methode, Krankheiten zu verbreiten“. Führt Finnisch als eine Art Rachen-Morbus vor – alles schön inkorrekt und so gar nicht Europa-besoffen. Ernster wird er dann wieder, als es um die Kirche und deren hohe bischöfliche Vertreter geht: „Thebartz van Elst? Ein furchtbarer Mensch, aber er hatte Geschmack!“ Die eigene Ehe: „Wir sind ein Team, zwei Experten von Rang, ein „M & M“-Konzept“ – er meldet ein Problem, die Frau „macht“.
Und die USA mit ihrem abgewählten Eichhörnchentoupetträger kommen natürlich auch noch an die Reihe – erst in einem viel zu lang geratenen Song voller Aufzählungen, dann mit einem Lob des amerikanischen Optimismus, der zu Mondlandungen befähigt.
Seitenhieb auf die Deutschen: „Hier hätten sie sich erst mal ein Loch gegraben aus Angst!“ Damit wären wir wieder beim Ernst des Lebens angekommen, bei der German Angst und einem nach Reichows Meinung allzu zögerlichen Kanzler. Der trage die Merkel-Raute im Gesicht, lästert der Künstler noch, ehe er sein Herz ausschüttet und das Publikum zum Innehalten zwingt. Da hat einer wirklich mal „Ich“ gesagt, ganz altruistisch.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.