Nach(t)kritik
Eine Geschichte der Nichtanpassung
Veranstaltung: Andreas Schaerer & A Novel Of Anomaly: Quartett in ungewohnter BesetzungZwischendrin kommt bei Kalle Kalima der Finne zum Vorschein: „Weiß jemand, wie das Eishockey-Playoff München-Berlin ausgegangen ist?“, fragt der Gitarrist von „A Novel of Anomaly“ zu Beginn des zweiten Sets das bosco-Publikum. Um kurz nach neun weiß das freilich noch keiner, zumal die Schnittmenge zwischen Puck- und Jazz-Freunden nicht allzu groß sein dürfte. An diesem erklärtermaßen „anomalen“ Abend aber geht es um alles andere als Mainstream-Geschehen: Zu ihrem Tournee-Auftakt geben sich vier Herren in Gauting die Ehre, von denen zwei aus der Schweiz kommen, einer aus Italien und eben der eingangs genannte Skandinavier. Inoffizieller Chef oder zumindest Kern des Quartetts ist Vokalist Andreas Schaerer, der den Landkreis Starnberg bereits 2016/17 mit seiner Formation „Hildegard lernt fliegen“ in ungeahnte Klangsphären lockte. Schaerer steht auch diesmal im Zentrum des Geschehens, zumindest am Anfang: Liefert sich mit dem Akkordeonisten Luciano Biondini einen Dialog aus pointillistisch gesetzten Staccato-Tönen, setzt seine Stimme dabei wie eine Posaune ein, die Schaerer auch noch mimisch andeutet, als wäre das Instrument real. Dass aus der „Posaune“ schließlich fast so etwas wie eine vokale „Querflöte“ wird, gehört zum Konzept des Überraschungsreichtums - „A Novel of Anomaly“, hier wird mit musikalischen Mitteln eine in jeder Hinsicht ungewöhnliche Geschichte erzählt, und zwar von allen vier Akteuren, nicht nur solistisch.
Kalle Kalima, der Eishockey-Fan, steuert zur Gesamtperformance ebenso komplex-überbordende Kompositionen bei wie Lucas Niggli, der Drummer und alte Weggefährte Schaerers aus Duo-Tagen. Erstaunlich ist dabei vor allem das von gegenseitigem Respekt geprägte, mühelos wirkende Ineinandergreifen der Elemente: Gitarrenvirtuose Kalima schreibt dem Akkordeon-Genie Biondini eine hinreißende Solo-Passage, Schaerer fremdelt mit seiner hoch greifenden Tenorstimme kein bisschen, wenn „Kalle“ erdige Rock-Töne vom Stapel lässt. Man wähnt sich während dieser aufwühlenden Wechselbäder mal wie bei Klaus Nomi, mal wie bei "Cream" und dann wieder bei Angelo Branduardis zart gesponnener Italianità. „Fiore Salino“ (salzige Blume) haben Schaerer/Kalima eines dieser Arrangements passener Weise getauft – immer gibt es eine kontrapunktische Zutat zur Reinheit, eine Schärfe zur Süße. Bei Schaerers Gesang weiß man zuweilen nicht, ob das noch Sprache ist (Rätoromanisch? Italienisch? Schwyzerdütsch?) oder nur Silben-Reihung im Sinne akustischer Kontrastbildung. Und man weiß bei so viel unerwarteten Ingredienzien auch manchmal nicht, ob ein Stück schon zu Ende ist oder doch noch etwas kommt. Das Bosco-Auditorium jedenfalls reagierte sehr aufmerksam und rechnete mit allem. Schaerer seinerseits machte dem Mann am Mischpult tüchtig zu schaffen, wollte er doch mal voluminösen und dann wieder zurückgenommenen Klang: Mit lebhafter Gestik bezog der Vokalist den „fünften Beatle“ den ganzen Abend lang immer wieder ein ins Gesamtkunstwerk. Schaerer baut seine Musik – bei der von „A Novel...“ genauso wie bei „Hildegard“ stark auf naturalistischen Elementen auf. Das können Klicklaute sein, vogelartige Laute (samt Stelzvogel-Bewegungen), aber auch das blanke Strömenlassen seiner höchst wandelbaren Stimme. Man kann es sich recht gut vorstellen, wie das war Mitte der achtziger Jahre, als der junge Andreas im Emmental auf einem Hügel saß und die schweizerische Landluft um ihn herum als „my space“ betrachtete: In das allzu reine Idyll mischte sich wohl schon damals ein gutes Stück Kuhstall.
Andreas, gewiss kein vor sich hin träumender "Fool On a Hill", reibt sich sozusagen am vermeintlichen Idyll, ist als Erwachsener durchaus zu eigenwilligen politischen Statements in der Lage: „Direkt nach der Wahl“ Donald Trumps zum US-Präsidenten hatten er und seine internationalen Mitstreiter („Wir wollten möglichst all unsere Muttersprachen zu Wort kommen lassen“) jedenfalls das dringende Bedürfnis, diesem heraufziehenden Welt-Unheil eine Komposition entgegen zu stellen, die von „Wings of Fire“ kündet und sogar die Verliererin Hillary (Clinton) nicht unerwähnt lässt. „A Novel of Anomaly“ ist also unangepasster musikalischer Ausdruck im besten Sinne, oder – knapper - „Jazz“ auf der Höhe der Zeit – forschend, dynamisch, prozessual fließend, frech und jederzeit überraschungsreich. Ein Stück der neuen CD heißt übrigens „Planet Sumo“ - es könnte auch ein ironischer Kommentar zum Ringen gewaltiger Mächte sein oder auch einfach nur Spaß am „Catch“ zwischen Instrumenten und Stimme. Kein Eishockey, aber zwei Zugaben, unstillbarer Appetit beim Publikum – und wer sich nicht satt hören konnte: Am 13.Oktober gastieren Schaerer & Co in der Starnberger Schlossberghalle.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.