Nach(t)kritik
Eine Kuh tanzt Schwanensee
Veranstaltung: Theater Zitadelle: "Die Berliner Stadtmusikanten"Die Kuh hat wieder eingenässt, träumt vom Fliegen und leidet unter Bluthochdruck. Die ergraute Katze ist traumatisiert und altersstarrsinnig, der alte Wolf ist auf einem Auge blind, liest aber im Altenheim heimlich „unter der Bettdecke wie ein Teenager“, und der leicht demente Spatz will am liebsten immer nur Karten spielen und wiederholt ständig den Spruch: „Ja, ja, lange leben will jeder, aber alt werden keiner.“ Diese vier Schicksalsgenossen werden bald genug haben vom strengen Regiment ihres Pflegeheims und sich von der Uckermark auf den Weg nach Berlin machen, getreu dem Motto: „Etwas Besseres als den Tod finden wir überall.“
Das Theater Zitadelle Berlin hat aus dem Stoff der „Bremer Stadtmusikanten“ unter der Regie von Pierre Schäfer eine derart zu Herzen gehende, ideenreich-witzige Puppenkomödie gemacht, dass das bosco-Publikum hin und weg war: Der alte Kunstgriff der Tierfabel als Stellvertretergeschichte für Menschlich-allzu-Menschliches – hier hat er eine großartige Neuauflage erlebt, mit Situationskomik, Musik und sogar einer Portion Sozialkritik. Regina und Daniel Wagner agieren als Figurenspieler auf einer Bühne, wie man sie vom klassischen Puppentheater her kennt: Regina spricht die mit Käthe-Jaenicke-artigem Tonfall gesegnete Kuh und die nicht minder schrullige Spätzin, Daniel den an einen pensionierten Piraten erinnernden Wolf und die allzeit aufsässige Katze – beide menschlichen Akteure bleiben beim Hantieren mit ihren Figuren jederzeit sichtbar, und doch sind es die Tiere, deren Stimmen und Charaktere die Aufmerksamkeit des Zuschauers völlig in ihren Bann ziehen. Im Altersheim sehen sich die armen Viecher dem Befehlston des geldgierigen Personals in Gestalt von „Schwester Gisela“ (Regina Wagner) und Pfleger Eugen (Daniel Wagner) ausgesetzt, die ihnen sämtliche Wertgegenstände abnehmen und von morgens bis abends vorschreiben, was sie zu tun haben: Da wird dann Seniorengymnastik mit viel „Aua“ betrieben, und der bei der „VKK“ (Vogelkrankenkasse) versicherte Spatz aufgefordert: „Schauen Sie mal in den Cholesterinspiegel!“ Die Kuh mit dem Bluthochdruck bekommt derweil zu hören: „Lassen Sie besser mal ´n paar Milchprodukte weg!“
Typisch Altenpflege also? Sogar die Gespräche zwischen den kasernierten Leidensgenossen kreisen wie bei den Menschen zwischen Erinnern und Hoffen: Der Biber hat es anscheinend nicht überlebt, dass er sich mit dem Wolf ein Zimmer teilen musste. „War ein Arschloch!“, meint die Katze. Darauf die Kuh: „Aber die Beerdigung war schön!“ Sie selbst glänzte offenbar mal als Bühnenstar am Theater in Anklam und schwärmt: „Mir lagen die Verehrer reihenweise zu Hufen!“ Und dann legt sie eine Schwanensee-Ballett-Szene hin, die an Grazilität kaum zu übertreffen ist. Es ist ein großes Seufzen unter diesen entwürdigten Alten – der verwitwete Spatz möchte so gerne noch einmal in Berlin „beim Café Kranzler zwischen den Tischen herumhüpfen“, der Wolf „einen alten Freund in Reinickendorf“ besuchen, und die traumatisierte Katze endlich vergessen können, was man ihrem Wurf einst angetan hatte. Geträumt, getan: Das Quartett entwendet nachts den Altenheimgeneralschlüssel und macht sich auf den Weg in die große Freiheit. Es wird ein unvergessliches Abenteuer mit Nächtigen unterm Himmelszelt, die Ballerina mit dem Euter entdeckt das Sternbild der „Großen Kuh“, die kataleptische Katze hat unversehens mit einer Ameisenstraße zu kämpfen („Kommt ihr durch?“), und der Wolf singt das bewegende Lied „You are to give me wedding rings“. Zum Heulen schön. Sogar Witze erzählen sich die vier Vagabunden unterm Firmament. Man wünscht diesen heimatlosen Geschöpfen bald nichts sehnlicher, als dass sie gut ankommen mögen im großen Berlin.
„Vier Tiere auf dem Weg in eine große Stadt? Kommt mir irgendwie bekannt vor“, sagt die Katze beim Aufbruch am nächsten Morgen. Der Spatz aber hat längst in der Ferne die Lichter der Metropole erspäht, und die Kuh schmettert vor lauter Vorfreude dazu die hinreißende Claire-Waldoff-Nummer: „Wejen Emil seine unanständje Lust“ von 1929 – Reimprobe: „Ick lasse ja keen docter an meene scheene Brust....“ Dass Regina Wagner genauso rote Haare trägt wie einst Claire Waldoff, sei hier nur am Rande notiert. Am Ende dieser Parforce-Tour werden die „Fab Four“ sich sogar noch an der Originalbesetzung der „Bremer“ Konkurrenz versuchen, sie werden im Kreis gelaufen und am Ende wieder an ihren Ausgangspunkt zurückgekehrt sein. Doch sie sind eine verschworene Gemeinschaft geworden, haben ihre Würde bewahrt und sogar das üble Personal aus dem Altersheim gejagt. Einen Neuzugang können sie übrigens auch noch begrüßen – einen Hamster, der glaubt, er sei ein Meerschweinchen.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.