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Nach(t)kritik

Do, 03.03.2016
20.00 Uhr

Große schauspielerische Leistung

Veranstaltung: Schauspiel Frankfurt : Die Blechtrommel - nach Günter Grass

Das Ganze ist eine Sache der Perspektive. Die „Blechtrommel“ ist eine fiktive Autobiografie, erzählt aus der Perspektive eines Kindes, eines alten Kindes, das über ebenso erstaunliche wie beängstigende Einblicke in die Welt der Erwachsenen verfügt. Die Bühnenfassung, so wie sie das „Schauspiel Frankfurt“ in der Inszenierung von Oliver Reese umsetzt, fokussiert sich auf die sich  immer und immer wieder verändernde Perspektive und verhindert so, dass die Aufmerksamkeit der Zuschauer auch nur einen einzigen Moment lang nachlässt, im Gegenteil: Es entsteht ein Gefühl der Beunruhigung, Beklemmung. Anders als der Roman, der Günter Grass berühmt machte, beginnt das Stück nicht mit dem berühmten Satz: „Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt …“ Anders als der Roman hat es ein offenes Ende. Und anders als der Roman setzt das Bühnenstück nicht nur auf die Wirkung der Sprache, sondern auch auf die Wirkung der Bilder. 

Da ist zunächst das Bild des schwarzen Raums, dessen Größenverhältnisse einzig und allein mit einem überdimensionierten schwarzen Stuhl vorgegeben werden. Der riesige schwarze Raum, in dem der Schauspieler Nico Holonics zwei Stunden lang alleine agiert. Er ist ein Mann in Kinderkleidung, kurze Hose, Hosenträger, Kniestrümpfe. Er ist Oskar Matzerath, der die Geschichte seines Lebens erzählt und gleichzeitig ihr Akteur in allen Rollen ist. Der in seinen Erzählungen zwischen der dritten Person und der ersten Person hin und her springt, manchmal innerhalb eines einzigen Satzes, der dieses „Oskar oder ich“ schließlich sogar trommelt. Aber wer ist dieser Oskar? Das Kind, das zum dritten Geburtstag eine Blechtrommel bekommen hat und an diesem Tag beschlossen hat, nicht mehr zu wachsen? Das staunende Kind an der Hand der Mutter? Der junge Mann im Körper eines Kindes, 94 Zentimeter groß? Der Zyniker, der alles und jeden durchschaut? Der despotische Wahnsinnige, der über Leichen geht, um seinen Willen durchzusetzen? Der zurückgebliebene Gnom, ein Fall fürs Euthanasieprogramm?

Nico Holonics ist alles. Nacheinander, abwechselnd – und gleichzeitig. Und er ist auch jene Großmutter mit den vier Röcken, die in die Weltliteratur einging. Er ist seine eigene Mutter. Er ist der einfältige Kolonialwarenhändler Alfred Matzerath, dem er seinen Namen verdankt. Er ist Jan Bronski, der Liebhaber der Mutter, den er für seinen Erzeuger hält. Er ist der verwachsene Liliputaner Bebra, der ihn lockend für sein Fronttheater anwirbt. Er ist der brüllende Führer. Er ist der jüdische Spielwarenhändler, der ihn mit dem Notwendigsten, nämlich mit immer neuen Blechtrommeln, versorgt. Er ist Maria, die ihn mit ihrem Vanilleduft erregt. Er ist Verführter und Verführer. Er ist der Fischer, der aus eben jenem Pferdekopf eben jene Aale zieht, die ebenfalls in die Weltliteratur eingingen.

Und er ist der Trommler, der Rhythmus und Tempo für die rasche, beinahe flimmernde Abfolge seiner Erzählung vorgibt, er ist der Dirigent, der mit knappen Handbewegungen die Einspielungen aus dem Off und die Lichtwechsel vorgibt. Er ist es, der den schwarzen Vorhang wegzieht und den Blick freigibt auf die gleißende, die Augen schmerzende Wand aus unendlich vielen Blechtrommeln. Er ist derjenige, der sich in dem braunen Dreck wälzt, der ihm als Sinnbild für die Politik dient. Er ist der einzige, der in das Loch blickt, das sich inmitten der Bühne auftut. Er ist derjenige, der über Leben und Tod bestimmt. Und er ist schließlich der Schauspieler, der am Theater verzweifelt. Nico Holonics wird am Ende dieses Abends mit donnerndem Applaus gefeiert. Zu Recht, denn dieses Stück, das sich nicht vom allmächtigen Roman und noch weniger von allmächtigen Filmbildern einschüchtern lässt, ist ganz auf ihn zugeschnitten. Es schafft den Raum für seinen Oskar, den er mit großem schauspielerischem Können ausfüllt. 

Katja Sebald, 04.03.2016


Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.
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Do, 03.03.2016 | © Copyright Werner Gruban, Theaterforum