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Nach(t)kritik

Fr, 20.10.2023
20.00 Uhr

Im Dreieck der Tragik

Veranstaltung: Stefan Hunstein & Mathias Huth: "Enoch Arden" von Richard Strauss

In einer Gegenwart, der die Bezeichnung „melodramatisch“ als Schimpfwort gilt, hat es die literarisch-musikalische Mischform des Melodrams schwer. Diese laut Metzler Literaturlexikon „gleichzeitige oder abwechselnde Verwendung von Sprechstimme und Musik“ lässt auf den Spielplänen der deutschen Theater mit der Lupe suchen. Gleichzeitig jedoch scheint die Sehnsucht nach dem ganz großen Gefühl und seiner dramatischen Gestaltung größer denn je zu sein, und die derzeitigen Konflikte im näheren und fernen Raum geben jeden Anlass dazu. Umso bemerkenswerter ist es, dass dem Gautinger Publikum seitens des Theaterforums die Gelegenheit geboten wird, ein Melodram zu erleben: die Geschichte des verwaisten Fischersohns Enoch Arden, der schon als Kind mit dem Freund Philip um die kleine Annie konkurriert und später seine Sehnsucht nach einer intakten Familie zunächst mit wachsender Kraft und Tatendrang, später - als er Annie geheiratet und Kinder mit ihr hat - mit als Verantwortung getarnten Alleingängen kompensiert. Natürlich erleidet er Schiffbruch, auf der ganzen Linie: nach Jahren der Einsamkeit und des Überlebenskampfes bleibt ihm nur, seine einstige kleine Familie mit dem an seine Stelle getretenen Philip aus der Ferne zu sehen und sich aus derselben starrsinnigen Verantwortung heraus jede Offenbarung gegenüber der Geliebten zu versagen - um sie zu schützen, um sich zu schützen, um seine Gefühle zu schützen.

Die Ballade von „Enoch Arden“, verfasst von Alfred Lord Tennyson und von Richard Strauß zum Melodram vertont, erfährt in der Interpretation von Schauspieler Stefan Hunstein und Pianist Mathias Huth eine höchst intensive, faszinierende Aufführung. Zu Beginn, nachdem Stefan Hunstein ein kleines Loblid auf Gauting und sein bosco angestimmt hat - „Ich bewundere die unermüdliche Arbeit für die Kunst und Kultur an diesem Ort, manches Stadttheater wäre neidisch auf dieses Engament“ -, erläutert Mathias Huth knapp und anschaulich die Straußsche Methodik, mittels einer Zahl musikalischer Motive die Figuren, deren Beweggründe und die szenische Umgebung zu zeichnen. Da sind neben dem verspielten Annie-Motiv, dem braven Philip-Motiv und dem aufbrausenden Enoch-Motiv das alles in Bewegung bringende Liebesmotiv, das handlungsgebende Reisemotiv und das den Ort sowie dessen besondere Dramatik kennzeichnende Meeresmotiv.

Dann nehmen beide Künstler Platz, Huth am Flügel und Hunstein am Lesetisch, und das Melodram beginnt.Und gleich von Beginn entfaltet sich durch das Wechselspiel von musikalischer Farbgebung und sprachlicher Ausgestaltung die gesamte Tiefe der Geschichte. Aus dem Kinderspiel der drei handelnden Figuren - Enoch, Philip und Annie - erwächst nach und nach eine immer erwachsener werdende Dreiecks-Verbindung, deren Tragik von Beginn an erkennbar ist. Immer wieder verschieben sich in diesem Dreieck die Kräfteverhältnisse, doch die gegenseitige Abhängigkeit bleibt erhalten - auch noch, als Enoch ausbricht und zunächst für Jahre verschwindet. Dabei gelingt es Stefan Hunstein, allen drei Figuren nicht nur mittels sprachlichem Gestus und stimmlich-mimischer Gestaltung ein Gesicht zu geben, sondern diese auch heranwachsen und über die Jahre altern zu lassen, an und mit ihrer tragischen Verbundenheit. Insbesondere den zurückgekehrten und an seinem Entschluss krankenden, sterbenden Enoch lässt er derart plastisch werden, dass man ihn dort am Tisch sitzen glaubt, als wäre es der Wirtshaustisch im einsamen Dorf an der kargen Küste.

Immer wieder holt Mathias Huth Hunstein ab, fängt ihn auf, bietet ihm eine Bühne aus Klängen und entlässt ihn wieder zurück in die reine Sprache. Immer dichter, intensiver wird dieser Dialog, dieses Spiel, immer näher rückt das Melodram mit seiner besonderen Qualität den gebannt Zuhörenden. So brauchen diese nach dem letzten Wort auch eine gute Weile, um zurückzufinden in die Gegenwart. Wenn die Geschichte eines starrköpfig wilden, mit seinen Gefühlen ringenden Fischers und den beiden ihm am nächsten Stehenden so nahe gehen kann, dann müssen exzellente Künstler am Werk sein. Ein in jeder Hinsicht besonderer Abend!

Sabine Zaplin, 21.10.2023


Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.
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Fr, 20.10.2023 | © Werner Gruban - Theaterforum Gauting e.V.