Nach(t)kritik
Kannt mer mal
Veranstaltung: Buchvorstellung durch Gerd Holzheimer: Nimm dir Zeit und nicht das Leben!Drei Polstersessel, ein Dreieckstisch, eine Tütenlampe. Ein Filmplakat der „Lausbubengeschichten“. Eva Schlichenmaier vom bar-rosso-Team steht im Fifties-Look hinter dem Tresen. Und das Buch, um das es an diesem Nachmittag geht, zeigt auf dem Cover ein knallrotes Goggomobil. Das schreit förmlich nach Geschichten, nach „Weißt du noch?“ und „Ich kann mich erinnern“, und tatsächlich wird die Vorstellung des Buches „Nimm dir Zeit - und nicht das Leben“, das der Gautinger Schriftsteller rund um Exponate des Unterbrunner Sammlers Hermann Geiger verfasst hat, zu einem Erzählnachmittag rund um die 50er und 60er Jahre.
Gerd Holzheimer beginnt. Erinnert sich an Geschichten, die daheim im Elternhaus beim Münchner Waldfriedhof lebten, Geschichten der Großmutter aus einer Zeit, als russische Kriegsgefangene beim Wiederaufbau des von Amerikanern zerbombten Hauses halfen und von diesen Amerikanern wiederum befreit wurden - als die Frage, wer der Gute und wer der Böse sei, ebenso wenig zu beantworten war, wie sie es immer noch ist.
Hermann Geiger erinnert sich auch an Erzählungen. An das Jahr seiner Geburt, 1956, als es im Januar so kalt war, dass die noch ledige Mutter - geheiratet wurde erst im Frühjahr - das Neugeborene nachts zwischen sich und die Großmutter legte, damit es nicht erfror.
Auf dem dritten Polstersessel nimmt ein Überraschungsgast Platz, der dem Filmplakat im Hintergrund entstiegen ist: Hansi Kraus. Auch er hat seine ganz persönliche 50er-Jahre-Erinnerung: „Damals haben meine Eltern in der Abendzeitung gelesen, dass für die Ludwig-Thoma-Verfilmung ein Lausbub gesucht wird“, erinnert er sich und erzählt, wie die Eltern der Meinung waren, genau einen solchen Lausbuben daheim zu haben, und er solle doch mal einen Brief an die AZ schreiben und von seinen Lausbubengeschichten berichten. Eigentlich hatte Kraus nicht allzu viel Lust dazu, über die Hausaufgaben hinaus nun noch etwas zu schreiben, doch die Eltern ließen nicht locker, und so schrieb er über eine tote Ringelnatter, die er aus dem Wald mitgebracht hat, um daheim die Tanten zu erschrecken; als er das Tier aus der Hosentasche zog, hat der Großvater den Braten gerochen, ihm die Natter aus der Hand gerissen und hineingebissen - „es sollte so aussehen, als wäre es bloß eine Gummischlange.“ Der Onkel aber hat genauer hingeschaut und es ist ihm sogleich auf den Magen geschlagen: er ist auf den Balkon gestürzt und hat sich übergeben.
Die gemütlichen Sessel, das Licht aus den Tütenlampen - stundenlang könnten die drei erzählen, stundenlang könnte man ihnen zuhören. Auch und gerade von den Widersprüchen dieser Aufbruchszeit, als so wie möglich schien und Lausbuben wie die drei Herren heute unbekannte Freiheiten genossen, aber in der Schule noch Schläge bekamen. Als in der Kirche für Afrika gesammelt wurde und man die Spendenmünzen in eine Dose warf, die mit einem zum Dank nickenden Schwarzen - dem „Nick-Neger“ - ausgestattet war. Solche Geht-gar-nicht-Geschichten wissen Holzheimer, Geiger und Kraus eben auch zu erzählen. Und nicht umsonst trägt im Buch, um das es ja geht, das Kapitel über die Adenauerzeit den Titel „Das beste Persil, das es je gab“. Schließlich wurde so manches saubergewaschen und unter den Tisch gekehrt in dieser Zeit.
Und vielleicht würde es dort noch immer sein, unter dem Tisch, sauber im Wäscheschrank, wenn nicht Hermann Geiger so ein besessener Sammler wäre. „Sammeln macht glücklich“, lautete der Titel jener Ausstellung im bosco, auf welcher das nun erschienene Buch „Nimm dir Zeit - und nicht das Leben“ basiert. Sammeln macht aber auch klug, weil es die Basis der Dummheit, das Vergessen, zu vermeiden trachtet - genau wie das Erzählen, dem ein Sammeln von Geschichten und Erinnerungen vorausgeht. Die Geschichte des Buches beginnt übrigens mit dem Abbau der Ausstellung und dem bayerischen Konjunktiv „Da kannt mer mal…“ - aber das ist eine andere Geschichte.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.