Nach(t)kritik
Keine Angst vor Ambivalenzen
Veranstaltung: Chin Meyer: Leben im PlusLeben im Plus, das klingt wie eine Verheißung. Klingt nach endlosem Wohlstand, Glück im Übermaß, Villa am See. Nach Unsterblichkeit. „Leben im Plus“, ist der Titel des neuen Programms von Chin Meyer. Und das Plus, das er an diesem Abend im bosco servierte, war ein im Anklang frecher, im Grundton bitterböser Abgesang auf die gnadenlose Ignoranz und Borniertheit der Gegenwartsgesellschaft. So scharf, so diagnostisch klar war Kabarett lange nicht mehr in diesem Raum.
Es begann eigentlich ganz harmlos - mit der Betonung auf „eigentlich“. Meyer erschwindelte sich eine Rockstar-Begrüßung, um anschließend wie ein charmanter Gastgeber durchs Publikum zu schweben: „Ich möchte Sie alle gut kennenlernen.“ Natürlich war dies der Moment, in dem alle auf einmal sehr viel in ihren Hand- und Hosentaschen zu suchen hatten, um nur ja nicht angesprochen zu werden. Und er sollte sich noch mehrmals an diesem Abend wiederholen.
Zurück auf der Bühne, wetzte Meyer allmählich die kabarettistischen Messer, um mit diesen zunächst die eher harmlosen kleinen Alltagsaugenblicke zu sezieren, in denen sich die gefährliche Arglosigkeit der Zeitgenossenschaft offenbart: das Sich-Ausliefern an eine scheinbar so hilfreiche digitale Technik wie beispielsweise Smart Speaker. Auf dem Tisch stand während des ganzen Abends Aleri, eine sprachgesteuerte Programmassistentin, die im Stil von Alexa oder Siri mehr oder weniger hilfreiche Kommentare abgab. Im Laufe des Abends entwickelte Aleri ein lästiges Eigenleben und nahm mehr und mehr die Fäden in die Hand, so dass Chin Meyer bald nicht mehr viel übrig blieb, als kapitulierend auf Aleri einzubrüllen. Einen „Tiefpunkt menschlicher Entwicklung“ sieht er in dieser so häufig zu beobachtenden Reaktion, Maschinen oder Hotlines sinnlos anzubrüllen. „Unser Gehirn scheint von einer Art Dieselbetrugs-Software gesteuert zu sein“, diagnostiziert er diesen allgemein um sich greifenden Zustand.
Einige Blicke des Kabarettisten über die Landes- und Kontinentsgrenzen hinaus belegen: Leben im Plus definiert sich überwiegend aus der Angst vor dem Zuviel oder Zuwenig. Eine Studie aus Estland, die Meyer heranzieht, belegt beispielsweise, dass die Angst vor einem Zuviel an staatlicher Unterstützung für Obdachlose im Grunde unbegründet ist: man hat dort jedem Obdachlosen, jeder Obdachlosen eine gewisse Geldsumme zur Verfügung gestellt, die in ihrer Gesamtsumme jener der Kosten für Strafverfolgung, Strafvollzug, Erste-Hilfe etc. deutlich unterlag; am Ende des Studienzeitraums waren die Betroffenen alle auf dem Weg in eine menschenwürdige Selbständigkeit. Und die Angst vor dem Zuviel an Migration, einhergehend mit jener vor dem Zuwenig an Ressourcen für das Aufnahmeland, wurde durch ein Beispiel aus den USA ad absurdum geführt: „Migranten stehlen, betrügen, morden, heißt es in den USA, und das ist durch befragte Indianer restlos bestätigt worden“.
So wurde das Programm nach und nach immer schärfer, immer fußend auf dem, was der Real-Alltag hergibt. Nach Beispielen für ein gnadenloses Leben im Plus aus dem Bereich der Finanzwelt gipfelte der Abend in einer Nummer, bei der es fast schon schwer fiel, zu applaudieren, so schwindelerregend gegenwärtig war sie: ein Song, der bis auf den Refrain aus Zitaten von AfD-Parteimitgliedern bestand und der in jeder Zeile belegte, wie fürchterlich blind wir alle sind, wenn wir uns im Plus wähnen und gar nicht wahrnehmen, wie sich dort ein Schlachtzug gegen die Demokratie und ihre Werte anbahnt, der längst begonnen hat.
Und so ist Chin Meyers neues Programm vor allem: ein Plädoyer für das Bunte, für das Aushalten von Ambivalenzen, für die Demokratie.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.