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Nach(t)kritik

Fr, 23.10.2015
20.00 Uhr

Kleine Löcher in die Stirn gebohrt

Veranstaltung: Matthias Egersdörfer: Vom Ding her
Nur mal angenommen, die Milch wäre noch genießbar gewesen. Dann hätte Matthias Egersdörfer nicht noch einmal zurück ins Bett sinken müssen, die vier Sizilianer im Eck des Schlafzimmers hätten nicht ihre Hüte so tief ins Gesicht ziehen müssen und die Sache mit dem Jüngsten Gericht und der ganzen Lebensbeichte, angefangen mit den ersten Raubzügen in frühester Jugend, wären ihm auch erspart geblieben. Ganz abgesehen von den Stimmen, die ihm einflüstern, er solle im Küchengeschäft ein Filetmesser erstehen und mit dem ICE „Lee Harvey Oswald“ nach Berlin fahren, um dann den Bundespräsidenten abzupassen und diesem das Messer zwischen die Rippen zu bohren. All das wäre ihm nicht widerfahren. Aber ob es tatsächlich etwas geändert hätte am Zustand der Welt, der doch so tiefe Rillen zwischen Nasenflügel und Mundwinkeln in Gesichter einzugraben versteht?
„Vom Ding her“, lautet der Titel des Programms, das Egersdörfer im bosco vorstellte. Und vom Ding her ist der Mann goldrichtig. Spinnt eine Wahnsinnsgeschichte um ein kleines Ding wie den missglückten Morgenkaffee und ist dabei so unkorrekt, ungebügelt und unverhohlen wie selten ein Kabarettist. Matthias Egersdörfers gepflegt schlechte Laune ist sein Markenzeichen, doch live zeitigt dieses nochmal eine ganz andere Wirkung. Da schaut eine Zuschauerin zu Beginn der Vorstellung noch einmal verstohlen auf ihr Handydisplay und wird angepflaumt, wem sie da ihre Aufmerksamkeit schenke. Da offenbart eine andere Zuschauerin auf Nachfragen ihre Starnberger Herkunft und erhält den Tipp, doch einmal ihre Samstage nicht mit dem Einstreichen der Brüste mit Himbeermarmelade zu verbringen, sondern stattdessen lieber in der örtlichen Buchhandlung Romane von Utta Danella zu klauen. Und als Egersdörfer eben diese fiktiv gestohlenen Romane ebenso fiktiv ins Feuer wirft und damit Lacher erntet, werden eben diese Lacher als Nazi-Lacher ins Programm hineingeholt. Matthias Egersdörfer teilt kräftig aus, er schont nichts und niemanden, am wenigsten sich selbst. Denn das scheinbare Mäandern seiner assoziativ gewebten Geschichten ist ausgefeilteste Autorenarbeit, die er ohne Stocken oder Überspielen aus dem Kopf heraus auf die Bühne stellt, ganz  so, als wären sie dem Augenblick abgetrotzt. Da schlüpft jemand mit Haut und Haar in eine Rolle hinein, die maßgeschneidert sitzt und zugleich eine Spiegelrolle ist, ohne dass der Rahmen mit dem Holzhammer gezimmert worden wäre.
Wie virtuos dieser Künstler seine Bühnenfigur zu spielen versteht, beweist er in einem minutenlangen Extempore, das er einem scheinbaren Versprecher abtrotzt. Da werden sie alle noch einmal an die Wand gestellt, die ob des Versprechers feixenden Deutschlehrer, die ohne Verständnis einfach mal mitlachenden Dumpfbacken, die eitlen Starnberger und gediegenen Gautinger sowieso. Matthias Egersdörfer ist so komplex unkorrekt, dass manchem das Lachen im Halse steckenbleibt. Doch ehe das Unkorrektsein, dieses Immer-voll-Draufhauen zum durchschaubaren Programm werden kann, sucht er rasch die Verbrüderung mit dem Publikum und empfiehlt, die Pause zu nutzen, um das Taschenmesser mit dem Korkenzieher dran herauszuziehen und sich damit gegenseitig kleine Löcher in die Stirn zu bohren. Oder – bei Kenntnis des Parkplatzes, den der Nachbar für sein Auto gewählt hat  - eben diesem Nachbarn noch rasch die Reifen aufzuschlitzen. „Letztendlich geht es darum, im ersten Teil auszusieben, um dann mit dem harten Kern die zweite Hälfte des Programms zu bestreiten“, bekennt Matthias Egersdörfer nach der Pause. Der harte Kern war diesmal sehr groß: es sind alle geblieben. Gewiss nicht zuletzt, weil dieses Kabarett so erfrischend anders, echt war und die üblichen Rundumschläge zur aktuellen politischen Lage einmal ausblieben. Nein, sie blieben nicht aus, sie waren einfach intelligent gewandet. Der missgelaunte Schimpfkanonier auf der Bühne ließ jeden Wutbürger und patriotischen Europäer als das dastehen, was diese sind: manische Egozentriker ohne Realitätsbezug. Getränkt mit zu viel schlechtem Kaffee. Der ein guter hätte sein können, wäre die Milch nicht sauer gewesen.
 
Sabine Zaplin, 23.10.2015


Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.
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Fr, 23.10.2015 | © Werner Gruban