Nach(t)kritik
Kreide gefressen?
Veranstaltung: Theater Zitadelle Berlin: Grand Hotel Grimm – Die Berliner Stadtmusikanten VJa, auch Puppen werden älter, bürgerlicher, harmoniebedürftiger, kommoder: Das Theater Zitadelle mit seinen „Berliner Stadtmusikanten“ war vor über drei Jahren erstmals im bosco zu Gast und präsentierte damals eine ziemlich erfrischende Menagerie, bestehend aus einer meist aufsässigen Katze, einer schrulligen Spatzen-Dame, einem brummigen Wolf mit Augenbinde und einer unerschütterlichen Frohnatur von Kuh mit kulturellen Neigungen. Zwischen dem ersten Teil dieser schön anarchischen Tier-Saga und dem jetzt gezeigten fünften Teil muss irgendetwas Einschneidendes bei den Berlinern passiert sein, abgesehen davon, dass man jetzt erfuhr, einen Teil 4 gebe es gar nicht. Man kann nur vermuten, dass die „Spielleitung“, also Regina und Daniel Wagner als Sprecher und Bediener der Puppen, sowie der als Regisseur des 5.Teils genannte Pierre Schäfer irgendwo ein Stück Kreide verschluckt haben – so wie es bekanntlich der Wolf gemacht hat, um seine Mitmenschen zu besänftigen und ihnen die Ur-Ängste vor dem Gefressen werden zu nehmen: Die unter der Überschrift „Sag mal, geht’s noch?“ zu erwartende Fortsetzung des renitent-frechen Typen-Theaters wurde diesmal jedenfalls nicht geliefert, stattdessen kuschelten sich die Stoff-Protagonisten aneinander wie in einer Senioren-WG.
Aber der Reihe nach: In Teil 2 und 3 muss aus dem ehemaligen Altenheim Dank unverhofften Geldsegens irgendwann das „Grand Hotel Grimm“ entstanden sein, mit der Kuh an der Rezeption, der Mieze als Katze des Hauses und dem Wolf als pensioniertem Stammgast. Inzwischen gibt es auch noch eine punkige Junior-Katze namens „Elli“, die gerne Death Metal hört und ab und zu die Kuh an der Rezeption vertritt, wenn die mit dem Spatz „spatzieren“ geht. So weit, so vielversprechend – dann aber begibt sich die Handlung in metaphysisch schweres Wasser, aus dem sie nicht mehr herausfindet: Im „Grandhotel Grimm“ checken nämlich ein paar ziemlich seltsame Gestalten ein, die dem laufenden Betrieb sofort die gewohnte Leichtigkeit nehmen: Der Tod, getarnt mit grüner Mütze, hat sich als „Hans im Glück“ angemeldet; hinter dem Rotkäppchen verbirgt sich mit kaum versteckten Hörnern der Teufel, und Gott kommt als zwergenhafter Gnom daher. Man hat sich zu einer Konferenz verabredet, bei der darüber befunden werden soll, ob die Katze in den Himmel oder in die Hölle kommt. Weil man sich aber nicht einig werden kann und Gott gegen den Leibhaftigen unerwartet eine Art Entscheidungspartie (Schach?) verliert, sieht es für die Katze nicht gut aus. Doch Wolf und Punk-Katze gelingt es, den – natürlich auf Zimmer 13 eingecheckten – Gevatter Tod abzulenken und die von ihm auszublasenden Lebenslichter zu vertauschen, mit der Folge, dass „Wolfi“, wie ihn seine tierischen Freunde nennen, plötzlich selber bei Petrus im Himmel antreten muss. Hier rafft sich das etwas bemühte Stück der Berliner Stadtmusikanten zu einer wirklich anrührenden Szene auf – oder hat schon mal jemand miterlebt, wie die Seele eines Wolfs entschwebend dessen Körper verlässt?
Jedenfalls gibt es noch eine weitere „Entscheidungspartie“, bei welcher der Himmel diesmal gegen den Lebenswilligen den Kürzeren zieht (Isegrimm bescheißt), so dass auch der Wolf zu seinen Freunden und zur ritterlich geretteten Katze ins Hotel zurückkehren und ein schönes Lied anstimmen darf – die laue Botschaft: An irgendeinem Tag wird die Welt untergehen, aber bis dahin machen wir das Beste draus! Die Auswahl an Liedern, die bei Teil 1 der Stadtmusikanten noch sehr originell war, ist bei Teil 5 deutlich schwächer geraten: Die offenbar aus „Mitte“ stammende Kuh singt Hildegard Knefs „Ich hab noch einen Koffer in Berlin“ und „Ich hab so Sehnsucht nach dem Kurfürstendamm“, der Wolf, angeblich einst „überzeugter Atheist“, trällert den EAV-Kracher „Küss die Hand, schöne Frau“. Und die Punk-Mieze trägt Gottseidank Kopfhörer. Dann noch Udo Jürgens mit „Der Teufel hat den Schnaps gemacht“ als Entrée für den Gehörnten, na ja. Die netten, sich kalauernd anbietenden Text-Jokes können die Schwere und Kompliziertheit der Handlung dann leider auch nicht mehr abmildern: Das Rotkäppchen antwortet dem Wolf auf die Frage, was es denn so im Körbchen habe, „95 B“. Der Hahn von Zimmer 10 tropft, hat aber schon ausgecheckt – hmm. Und er Spatz sagt: „Ich überflieg mal eben die Abrechnungen (des Hotels).“ Dagegen wirkte der an einen Hotelbewohner gerichtete Satz der in die Jahre gekommenen Katze inmitten all der Bravheit geradezu wohltuend, denn er machte genau dort weiter, wo Teil 1 so schön bissig gewesen war: „Sind Sie neu hier, oder kenn ich Sie nicht, weil ich dement bin?“
Vielleicht wollten die Berliner ja mal nicht ihre Puppen tanzen lassen, sondern was Erbaulich-Positives bringen, denn schlechte Nachrichten gibt es schon genug. In Gauting sind sie so oder so stets herzlich willkommen, denn ihre Fans lieben sie.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.