Nach(t)kritik
Massenmörder mit Taschentuch
Veranstaltung: Helmut Schleich: Ehrlich„Franz Josef Strauss hat gerade wenig Zeit, er bereitet sich auf die Ankunft von Kohl vor.“ Helmut Schleich alias „FJS“ hat sich trotzdem mal wieder Zeit genommen für seine berühmten Tiraden gegen die unfähigen Nachfolger und Möchtegerns, die sein Bayern verschandelt haben. Fast 20 Minuten dauert der von allen bosco-Besuchern erwartete Rundumschlag diesmal, und Schleich scheint - Latein muss sein - „posthum und ad hoc“ in der Form seines Lebens zu sein. Bis ins physiognomische Detail kann er den Über-Bayern nachmachen, ja er ist es mittlerweile wohl leibhaftig: schildkrötenhalsig, revers-zupfert, nervöserlgrinsig. Und stets auf der Höhe des Zeitgeschehens. Fast würde man sich wünschen, der 1988 verstorbene Strauss wäre noch auf den präsidentialen US-Donald getroffen,um dem tüchtig einzuschenken mit den Worten: „Bavaria first, aber ich bin der Förster!“
Schleich macht mit seiner „Kunst der Gedrungenheit“ aber nicht nur die Strauss´sche Epigonen-Abwatscherei zu einem Evergreen, sondern auch andere schier Unsterbliche: Die Figur des Zylinder tragenden „Heinrich von Horchen“ (weitere Markenzeichen sind ein Musical-Spazierstock, ein weißer Schal und ein Taschentuch wegen der feuchten Aussprache) setzt Jopie Heesters praktisch ein Denkmal zwischen Würde und Lächerlichkeit. Der untote Von Horchen ist also ein generationsmäßiger „Verwandter“ des toten Strauss, er blickt ähnlich desillusioniert auf die Welt von heute und berichtet munter vor sich hin tatternd davon, dass seine „Enkel alle längst im Heim sind“. Schleich, der geniale Verwandlungskünstler, wechselt wie schon bei etlichen früheren Programmen auch bei „Ehrlich“ hin und her zwischen diesen beiden Typen und baut noch drei weitere drumherum: Den des klassisch-ernsten Politik-Betrachters, den des Stammtisch-Prolls und, am Anfang und am Ende des Abends, den 14-fachen Mörder mit fränkischem Zungenschlag: Der schildert aus dem Knast heraus (38 Jahre Haft) seinen einstigen Amoklauf mit Pistole als blanke Unvermeidlichkeit – die Opfer hatten einfach genervt. Immerhin: „Beim Wirt wars ´n Querschläger.“
Unter der thematischen Klammer „Ehrlich“ handeln diese fünf Prototypen nun all das ab, was einen von ihnen letztlich zur Waffe greifen ließ: Von „Diesel-Gate“ bis zu Internet-Abzocke, von EU-Krise bis zum 22-stelligen IBAN-Terror, von „grünen Bundesgeschwätzführern“ bis zu Seehofers Fresskorb für den Papst. Schleich lässt seinen Strauss dazu poltern: „So was hätten wir zu meiner Zeit in die DDR geschickt!“ An der enormen Fallhöhe zwischen verklärten Größen der Vergangenheit und heutigen „Zwergen“, die bekanntlich auch lange Schatten werfen, wenn die Sonne tief steht, entfaltet sich Schleichs Bravour: Es ist das Überkommene, ja das längst Hinfällige, das ihn so fasziniert und dem er eine wütende Rest-Energie verleiht. Der Größenwahn, der einen Strauss zu Lebzeiten befiel, gebündelt in dem Satz: „Das bayerische Kabarett verdankt seine herausragende Stellung meiner CSU.“ Dabei sind die FJS-Betrachtungen aus dem Jenseits inzwischen sogar von einer gewissen Selbsterkenntnis durchsetzt – wenn´s um das Volk der Bayern als Ganzes geht, lässt Schleich aber lieber den Stammtischbruder zu Wort kommen: „Wir brauchen gar keinen Ausländer, um fremdenfeindlich zu sein.“ Das hat zweifellos Polt´sche Dimensionen. Und wenn Schleich dann noch den Reliquien-Handel der Kirche geißelt und den Benedikt XVI. als „eine Art Nutztier des Vatikans“ bezeichnet, dann könnten sogar dem aktuellen Papst die Ohren klingen. Das durchaus katholische Gauting war von diesem bosco-Auftritt restlos begeistert. Es war wohl auch die Lust, ein paar besonderen Hinrichtungen und Zertrümmerungen beizuwohnen. Den Schlusssatz sprach dann wieder der Amokläufer aus Franken: „Ich wenn den Abend gstaltet hätt´, säß da jetzt kaana mehr...“
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.