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Nach(t)kritik

Mi, 19.01.2022
20.00 Uhr

Mir schlagen vor!

Veranstaltung: Gerd Holzheimer: Mir ham! (Teil 2)

Ein literarisches Eisstockschießen hat Gerd Holzheimer dem Publikum des zweiten Abends seiner aktuellen Reihe „MIR HAM! - Von den Möglichkeiten des Lebens“ versprochen. Kurz zur Erinnerung: der Ausruf „Mir ham!“ stammt aus dem bayerischen Wintersportvergnügen, bei welchem die am Zug sich befindende Mannschaft den ebenso siegessicheren wie das Scheitern souverän in Kauf nehmenden Schlachtruf beim Setzen des Stocks auf das Eis ausstößt. Ein Ausruf, der die Wirklichkeit mit einem kaum herauszuhörenden Konjunktiv relativiert - wie Holzheimer zu Beginn des Abends erwähnt.

Eine illustre Auswahl an literarischen Kronzeugen - genial und mit großer Lust an der Ausgestaltung von Sprache vorgetragen von Caroline Ebner - belegte, dass doch sehr viel mehr zwischen Himmel und Hölle sich findet, als „unsere Schulweisheit uns träumen lässt“ (um es mit Shakespeare zu sagen). Angefangen bei Cervantes, dessen Don Quijote durch das Lesen von Ritterromanen sich selbst zum Ritter ernennt und das in einem Roman, der vorgibt, ein Ritterroman zu sein; angefangen also beim Realitätsjongleur Cervantes über den bereits erwähnten Shakespeare und das gesamte Panoptikum seiner Narren und an der Wirklichkeit verzweifelnden Könige bis hin zu Shakespeares und Cervantes` böhmischen Kollegen Jaroslav Hasek und Bohumil Hrabal (bei denen Gerd Holzheimer dann sichtbar zuhause ist) wird dieses literarische Eisstockschießen zu einer wilden Schlittschuhpartie über einem Boden, dessen Tragfähigkeit immer wieder aufs Neue ausgetestet werden muss.

Allen Figuren, die an diesem Abend mit der Stimme von Caroline Ebner zu Wort kommen, ist eines gemeinsam: sie misstrauen dem Vordergründigen, sie bezweifeln das Sichtbare. King Lear, Shakespeares tragischer und problematischer Held, fragt sich noch im Sterben angesichts der eigenen erhobenen Hand, ob dies seine Hand ist, ob dies überhaupt eine Hand ist. Haseks „Braver Soldat Schwejk“ treibt auf eine ebenso tragische wie burleske Weise sein Spiel mit den Erfordernissen der Realität, und Franz Kafkas Erzähler in der kurzen Geschichte „Auf der Galerie“ treibt den Konjunktiv als Möglichkeitsform auf die Spitze in Frage gestellter Wahrnehmung. „Wenn der Aff` wüsst, er ist ein Aff`, so wär er ein Mensch“, resümiert Johann Nepomuk Nestroy.

Der Zusammenhang zwischen Wirklichkeit und Wahrnehmung ist eines der Urthemen der Literatur. Immer wieder sehen sich Schriftsteller und Schriftstellerinnen (von denen an diesem Abend keine vertreten waren) ihren eigenen Fiktionen gegenüber, die sie dich auf der Basis einer - wie auch immer - erfahrenen Wirklichkeit geschaffen, sich also aus der Realität in die Fiktion übersetzt haben. „Möglichkeiten der Vermeidung“ lautete der Untertitel dieses zweiten „MIR HAM!“-Abends. Und ja: es mag eine Vermeidung der Konfrontation mit der Wirklichkeit sein, wenn man eine andere Möglichkeit in Betracht zieht. Aber genau das ist zugleich die Faszination der Literatur. Wo, wenn nicht in der Fiktion, lässt sich eine Variante ausdenken? So wird das „Mir ham“ zum „Mir hätten gern“ oder auch mal zum „Mir schlagen vor, dass…“ . Und das hat dann tatsächlich weniger Konjunktives als Konstruktives.

Abschließend sei noch einmal erwähnt, dass der wunderbar ironische, auf sehr beteiligte Art und Weise eine gesunde Distanz schaffende Vortragsstil von Caroline Ebner diesen Abend zu einem wunderbaren Hörerlebnis gemacht hat.

Sabine Zaplin, 20.01.2022


Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.
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Mi, 19.01.2022 | © Werner Gruban - Theaterforum Gauting e.V.