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Nach(t)kritik

Mi, 01.06.2022
20.00 Uhr

Pure Medizin

Veranstaltung: Ludwig Seuss & Manfred Mildenberger: Funky Boogaloos und Mellow Slow Drags

Wenn Dr. Will sich das Dashboard wie ein Lätzchen vor die Brust schnallt, ist angerichtet: Ludwig Seuss, Manfred Mildenberger, Tom Peschel, Viktor Vollmer und besagter Herr mit dem Waschbrett-Bauch und dem braunen Bowler auf dem Kopf sind an diesem bosco-Abend offenbar angetreten, um sämtliche Corona-Depressionen, Kriegsängste und Inflationssorgen für gut zwei Stunden einfach weg zu pusten - oder wie man in Louisiana auf anglo-französisch sagt: „Let The Bon Ton Rouler!" (bzw. Let the bon temps rouler!) Anlass für dieses so lange herbeigesehnte Konzert war die Veröffentlichung der Seuss/Mildenberger-LP „Funky Boogaloos & Mellow Slow Drags“ dieser Tage, eine zu Beginn der Corona-Pandemie in Manfred Mildenbergers „Cult Factory“-Studio entstandene Produktion, die ganz bewusst erst mal nur als Platte und nicht als CD herauskam: „Vinyl ist was Entspannendes, anders als Spotify,“ sagt Ludwig Seuss zu der Rückbesinnung auf die schwarze Scheibe. Man müsse nämlich vom Sofa aufstehen, um die A-Seite umzudrehen und sich die B-Seite anzuhören. Manch einer darf vorher sogar seinen alten Plattenspieler vom Speicher holen und entstauben – Vinyl ist also auch noch sportlich.

In diesem Sinne geht es dann auch gleich mal im bosco zur Sache, mit dem Walking Blues „You Got To Move“ (B-Seite!) und der Aufforde-rung, seinen Hintern zu bewegen: Wuchtig akzentuiertes Drumming (Mildenberger), Seuss mit Gesang am Piano und auch ein gewisser Victor Vollmer aus Geretsried, der mit jaulender E-Gitarre aufhorchen lässt. Ludwig wird später flunkern, dass dessen berühmter Papa Titus Vollmer in Rente gegangen sei (mit 53?) oder gerade in Spanien toure und ihn deshalb der eine von drei Söhnen heute vertrete. Wohl dem, der eine dermaßen begabte Familie zu seinen Freunden zählt! Jedenfalls fühle er, Seuss, sich durch die Senkung des Altersdurch-schnitts „35 Jahre jünger“. Passend zu diesem „Verjüngungseffekt“ spielten die Musiker bald darauf die melancholische Bluesballade „The Time Leaves“ und die Textzeilen „You´re no more the kids that you ´ve been . . . . there´s nothing you can do, no matter what you try“ – so ist das nun mal: Keiner bleibt das Kind, das er mal war. Blues in seinen verschiedenen Erscheinungsformen ist bei den lyrics ja auch eine Zusammenfassung der wesentlichen Erkenntnisse des Lebens, und eine weitere lautet – Auftritt Doctor Will -, dass man manchmal nichts mehr zu verlieren hat und auf die nächste Sause geht, zu der man eingeladen wird: „Be My Guest“, röhrte der Doc und meinte wohl eine ganz bestimmte Medizin. Ludwig Seuss und Manfred Mildenberger hatten sich für diesen Wiedererweckungsabend also einen der größten Blues-Entertainer Europas zur Verstärkung geholt, und das Publikum lockerte sofort die Krawatten: Seuss packte sein Akkordeon aus, neben ihm wurde wieder das Dashboard gewetzt, und los ratterte der Zydeco-Boogie-Zug in seinem unwiderstehlichen Südstaaten-Tempo und Mildenbergers Taktung - es war, als hätte es keine dunklen zwei Jahre gegeben. Auch der alte Weggefährte Tom Peschel am E-Bass blühte regelrecht auf, Seuss intonierte seine Fremdgeher-Nummer „Had some other baby“, und der Saal tobte schon vor der Pause mal wieder wie in alten Zeiten, all dies selbstredend auch noch getränkeumsatzfördernd!

Danach ging´s nach dem etwas leichtgewichtigen Stück „The Happy Blues“ (nur piano/drums) mit J.J. Cale´s „Cloudy Song“ zunächst zurückhaltend, um nicht zu sagen bewölkter weiter. Ludwig Seuss stellte einige musikalische „Ausgrabungsfunde“ vor, die ohne bestimmte wackere Blues-Chronisten längst der Vergessenheit anheimgefallen wären. Auch die neue LP ist so eine Bestandsaufnahme voller Reverenzen an große Meister. Live wiederum fiel abermals das frühreife Können des Boston-Absolventen Viktor Vollmer auf, der mit seinem Gitarrenspiel dem Piano ein einfühlsamer Widerpart war. Der „Doc“ kehrte nun auch auf die Bühne zurück, um bei „Bouncing Max“ (Komposition: Ludwig Seuss) und „Gangster of Love“ den verlangten Macker zu geben. Seuss selbst, man hatte sich immer wieder drauf gefreut, nahm erneut am Klavier Platz und ließ nun den Boogie-Finger auf die Tasten los: Dauernd auf die akustisch so schön juckende Stelle und in rasendem Tempo – Gauting unchained! Ehe sich dieser wunderbare Abend dem Ende zuneigte, streute die Band noch einen schönen Walzer des Zydeco-Königs Clifton Chenier ein. Dann noch „My Baby She´s Gone“, eine von Ludwigs Seuss´ Parade-Nummern auf diesem Territorium, samt Dashboard-Solo-Verarztung durch den „Doctor“. Und als Abschluss-Zuckerl natürlich der Klassiker „Down The Road“ mit den unbarmher-zig tremolierenden Piano-Fingern. Es war ein einziges Echo der guten alten Zeiten, voller mellow drags and funky boogaloos, mal überschwänglich, mal in-sich-gekehrt. In den nächsten Tagen dürften rund um Gauting weitere Plattenspieler entstaubt werden.

Thomas Lochte, 02.06.2022


Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.
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Mi, 01.06.2022 | © Werner Gruban - Theaterforum Gauting e.V.