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Nach(t)kritik

Fr, 09.10.2015
20.00 Uhr

Rainer von Vielen

Veranstaltung: Rainer von Vielen: Erden
„Du hältst mich wach die ganze Nacht...“, singt der Sänger. Könnte stimmen: Wer Rainer von Vielen beim Bosco-Auftritt erlebt hat, muss nicht zwangsläufig sofort in den Schlaf gefunden haben. So elektrisierend, ja geradezu aufpeitschend ist schon lange keiner mehr über Gauting gekommen – beim Kulturfestival im Juli hatte der Kemptener bereits aufhorchen lassen, aber da war der Rainer, sorry: Kalauer, einer von Vielen gewesen und hatte deshalb noch nicht diese Wucht entfalten können, die eben nur ein ganzer Live-Abend zuwege bringt. Tempo aufgenommen hatten von Vielen, sein Gitarrist Mitch Oko und der Bassist Dan Le Tard von der allerersten Sekunde an, als Rainers tiefes Bassröhren wie ein Didgeridoo die Gehörgänge kaperte und sogleich in sakraler Manier der „Große Bla“ beschworen wurde - „Rammstein“ ließ grüßen und bald auch andere Paten. Aus dem Wummern erhebt sich mit machtvollem Pathos immer wieder die Stimme, und die hat meist was Kompromissloses, Wütendes an sich. Entsprechend die Songtitel: „Alles verloren“ (ein strammer Reggae), „Kein Zurück“ oder das schön vorwärts treibende „Empört Euch“. Es sind nicht unbedingt analytische Texte, aber das braucht es bei solchem Drive gar nicht, der Sog entscheidet. Man muss irgendwie froh sein, dass diese fantastische, kraftvolle Band gerade nicht dem rechten Lager zuneigt, sondern im Gegenteil an die geballten Fäuste von „Ton, Steine, Scherben“ und Rio Reiser anknüpft, also an die Grundhaltung „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ bzw. „Keine Macht für niemand!“ Die alte Wut ist noch immer höchst lebendig, das ist schon mal ein gutes Zeichen. Zwischendurch werden solche Ahnen sogar zitiert, ehe Rainer & Co. wieder ihr eigenes Ding durchziehen: Dazu gehören auch unsentimentale Liebeslieder wie „Wenn Du mich nur lässt“ oder das politisch-ironische „Copy Paste“, das ausdrücklich einem gewissen Herrn zu Guttenberg gewidmet wurde, auch so ein Wütendmacher. Meistens sind aber Tempo und harter Beat angesagt, gefüttert von „dicken Bassdaumen“ und einfallsreichen Gitarren-Läufen, immer wieder den Stil variierend von Ska über Rap bis zu Elektro-Sound, der sich streckenweise nach „Kraftwerk reloaded“ anhört. Es ist wohl die Stimme einer weitgehend illusionslosen Generation, die hier hervorbricht, ein Brustlöser für Leute, die sich nichts mehr vormachen lassen.
Im Bosco fehlte zwar der erkrankte Drummer Sebastian Schwab, aber die Samples und Echo-Effekte gingen genauso runter wie Öl: Leicht auszusteuern war der ganze Furor bestimmt nicht, so ging zuweilen was von der Sangesbotschaft rettungslos im Sound unter, aber das machte den Konzertbesuchern wenig aus – sie tobten längst auf der frei geräumten Tanzfläche des Saals herum und skandierten Lieder wie „Es bleibt dabei“ (Die Gedanken sind frei). Rainer sang und röhrte Vielen offenbar aus dem Herzen oder besser aus dem Bauch, und dass er in seinen Hardcore auch mal Jodler und ein geschmeidiges Akkordeon und eine Bluesharp einbaut, ist als wahrer Geniestreich zu werten: Da gehen Form und Inhalt eine aufregende, explosive Symbiose ein, da reicht der Blues die Fackel innerhalb ein und desselben Stücks an den Rap weiter, und das alles mit ordentlich Saft und direkter Ansprache. Es tat und tut dem Bosco unbedingt gut, sich solchen Frischzellenkuren im Sinne eines jungen Publikums auszusetzen, denn die „Diktatur“ der Grauhaarigen gilt es zu brechen – keine Macht für niemand!  Thomas Lochte
 
Thomas Lochte, 10.10.2015


Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.
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Fr, 09.10.2015 | © Werner Gruban