Nach(t)kritik
Reisen durch Seelenlandschaften
Veranstaltung: Aris Quartett & Daniel Müller-Schott, Violoncello: Prokofjew und SchubertEin corona-bedingt nur halb besetzter Zuschauerraum ist ein Nachteil für die Akustik, keine Frage. Das sollte sich gerade bei Schubert mit einer Verschlankung des Klangkörpers bemerkbar machen. Der solistische Andante-Satz cis-Moll op. 134, der bei Prokofjews Tod als einziger von der geplanten Sonate weitgehend Form angenommen hatte, arrangierte sich deutlich besser mit den Gegebenheiten. Vielleicht war die direkte und trockenere Ansprache sogar ein Vorteil für das etwas kuriose Werk, mit dem der Cellist Daniel Müller-Schott das Konzert eröffnete.
Kurios insofern, da Prokofjew darin ein tänzerisch vergnügliches Thema einflocht, das untypische für den Komponisten ist und deutlich herausstach. Es soll von Mstislav Rotropowitsch angeregt worden sein, mit dem Prokofjew gut befreundet war und der auch noch ein Jahr lang den hier interpretierenden Daniel Müller-Schott unterrichtete. Von Vladimir Blok vervollständigt, ist der Sonatensatz für Cellisten sicher ein dankbares Werk, da es ihnen erlaubt, sich in allen Registern zu beweisen. Mit einem solch breiten Spektrum der Spieltechniken und Ausdrucksformen fand der Satz gewisse Parallelen zu Schuberts C-Dur-Quintett mit zwei Violoncelli. Eine Übereinstimmung war auf alle Fälle in der stimmigen Gesamtform gegeben, trotz der weit ausgreifenden Aufs und Abs. Aber auch in einer gewissen Poesie, die Streicher-Solowerken per se innewohnt, von Prokofjew aber auch immer wieder explizit mit weiten Legato-Phrasen bedacht wurde.
Trotzdem: Schuberts C-Dur-Quintett konnte auch der russische Komponist in Sachen Erzählweise nur wenig entgegensetzen. Es ist auch keine gewöhnliche Komposition. Schubert entblößte sich bei dieser vom nahen Tod gezeichneten Schöpfung wie sonst kein anderer Komponist. Seine Seele liegt hier offen und vertrauensvoll dem Hörer anvertraut. Das Aris Quartett wie Müller-Schott tauchten tief und mit großer Hingabe in die Empfindungswelt des so jung sterbenden Komponisten ein. Nur wenige Wochen nach Vollendung des Quintetts erlag er seiner Krankheit.
Die besondere Eigenschaft der Komposition ist zweifelsohne das weite Spektrum der Ausdrucksformen zwischen zartesten Klangspuren innigster Offenbarungen und verzweifelter Dramatik von eruptiver Gewalt. Die Musiker des Abends folgten kompromisslos den bloßgelegten Emotionen des Komponisten, die den großartigen und vielfach preisgekrönten Instrumentalisten zwischen den Extremen so unendlich viele Nuancen musikalischer Formung an die Hand gaben. Entscheidend dabei, dies alles in eine große, übergeordnete Form zu gießen, was hier fraglos mustergültig gelang.
Vom ersten Ton an nahmen die fünf großartig aufeinander eingespielten Musiker ihre Hörer auf die Reise mit. Und es ging schon im ersten Satz in extrem weite Rücknahmen, geradezu riskant in den momentan herrschenden akustischen Gegebenheiten. Aber der Klangkörper hielt die Spannung, was in den hämmernden Verzweiflungspassagen weit leichter fiel. Und ja, das Entscheidende in diesem Werk war hier kein Zufall: Im langsamen Satz hielten die fünf Musiker die Zeit an. Dieser Ausdruck von Sehnsucht, Träumen und lieblichsten Erinnerungen war die reinste Seelenmassage. Genauso selbstverständlich ging dem Aris Quartett und Müller-Schott das tänzerische Element im Scherzo oder die wienerische Geschmeidigkeit im Schlusssatz von der Hand. Stets blieb das Ensemble nah am Publikum, was das musikalische Erlebnis noch intensiver machte und mit lang anhaltendem, frenetischem Applaus gedankt wurde.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.