Nach(t)kritik
Riechen, wenn´s Herbst wird
Veranstaltung: Luise Kinseher: Ruhe bewahren!Eine kleine Geschichte der Zeit: „Der Augenblick“, sagt Mary, „ist in dem Moment, wo er im Hirn ankommt, schon vorbei.“ Und Helga sinniert angesichts von Heinzens Demenz, dass vergessene Zeit eigentlich immer eine gute Zeit ist - im Rückblick. Während Luise die ganze Zeit über auf einen Anruf wartet, der sich Zeit lässt und der sie in seinem vorläufigen Ausbleiben nachhaltig nervös macht, obwohl sie sich immer wieder dasselbe Mantra vorbetet: „Ruhe bewahren!“
„Ruhe bewahren“, ist auch der Titel des Programms von Luise Kinseher. Es hat bereits seine eigene Zeitkurve, ist gut abgelagert und auch in Gauting schon auf der dritten Umlaufbahn. Zeit also für ein paar Überlegungen grundsätzlicher Art.
Was genau geschieht dort auf der Bühne? Luise Kinseher spielt ein Monodrama mit gelegentlichen Einschüben, in denen zwei andere bekannte Bühnenfiguren aus ihrem Repertoire zu Wort kommen: Helga Frese und Mary from Bavary. Das Monodrama ist eine sehr traurige Geschichte von Einsamkeit und vielleicht falschen Hoffnungen und einer Begegnung im Fahrstuhl, die nur einen kurzen Moment ausmachte und doch einen Anspruch auf Ewigkeit erhebt. Eine Wechselwirkung aus Vergangenheit und Zukunft, verankert in der allmählich fortschreitenden Gegenwart. Eine Phänomenologie der Vergänglichkeit. Oder, um es mit Mars Worten zu sagen: „Das ganze Dasein ist ein Ministerium.“
Warum macht Luise Kinseher das? Sie könnte die vielen kabarettistischen Steilvorlagen dieser an Realsatire nicht gerade armen Gegenwart auf ihr Figurenkabinett ummünzen und einen bitterbösen Abend zwischen Panama-Papers und Minarettverbot abstecken - das Motto „Ruhe bewahren“ hätte seine Gültigkeit behalten. Stattdessen baut sie die philosophischen Diskurse um das Thema Zeit immer weiter aus, gerät darüber mal ins Plaudern, mal ins Kalauern und findet immer wieder zurück zum Handy-Display, auf dem die erlösende SMS oder gar das einen Anruf ankündigende Vibrieren ausbleibt. Ist es so, dass sie das stilistische Gegengewicht zum Nockherberg braucht? „Noch Monate nach dem Nockherberg freue ich mich auf ein normales Publikum“, bekennt sie gleich zu Beginn des Abends, um dann das normale Publikum in bester Kabarettistentradition auf seine Belastungsgrenze hin zu testen: die erste Reihe observieren, Hintergründe abfragen, Ansprechpartner ausmachen. Kleine Anspielungen auf die erfragten Berufe und Lebensumstände - Berater, Coach und Rentner - durchbrechen den Wartemonolog ebenso wie eingestreute kurze Bemerkungen und Beobachtungen zur bayrischen Landespolitik und zum Zustand im Freistaat. Randnotizen zu dem, was nicht mehr stimmt in dieser Zeit: die Münchner Immobilienpreise, die Krise der EU, der Klimawandel. Kurze Zukunftsvisionen, die Kugelbrille als Verlängerung des Hirns und ihre Auswirkungen auf die Wahrnehmung im Allgemeinen und das Kabarett im Besonderen. Bis dann endlich, ganz am Ende, der ersehnte Anruf kommt. Der Moment, in dem sich die ins Unendliche ausgedehnte Zeit den Rückflug antritt und pfeilgerade ins Zentrum ihrer selbst fliegt. Ins Herz der Gegenwart, in die Gegenwart des Herzens.
Ein Schauspiel also. Ein philosophischer Abend. Eine Geschichte, die in jenen Momenten am dichtesten wird, wenn sie die Poesie entdeckt: in ihr stecke immer noch sehr viel Niederbayrisches, erinnert sich Luise Kinseher, sie habe den Geruch noch in der Nase von erntefrischem Heu, sie könne riechen, wenn es Herbst wird. Das, genau das ist ein Bild vom Wesen der Zeit, vom Kern Ewigkeit in der Frucht Vergänglichkeit.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.