Nach(t)kritik
Rotschenkelhörnchenpositiv
Veranstaltung: Martin Zingsheim: normal ist das nichtAnalog zu Niederbayern muss es im Raum Köln ein äußerst fruchtbares Biotop für Kabarettisten geben: Auch Martin Zingsheim stammt aus Köln, und was dem Niederbayern sein Bayerischer Wald, ist für Kölsche Jongs wie ihn vermutlich die Eifel, in der jede Familie aus der Gegend „seit ungefähr 30.000 Jahren“ an jedem Wochenende Ausflüge unternimmt. Zingsheim, Jahrgang 1984 und somit eigentlich Spätgeborener in der Kabarettisten-Landschaft, weiß nicht nur davon ein Lied zu singen, sondern von ganz vielen Dingen, über die er mit seinem Programmtitel sagt: „Normal ist das nicht!“ Beim Gastspiel im bosco hat er jede Menge Beispiele parat für die Abweichung von der vermeintlich wünschenswerten Norm – ungefähr zwölf davon in Liedform. Begleitet von Martin Weber (Geige, Gitarre) und Klaus Schulte am Schlagzeug, lieferte Zingsheim eine fulminante Mischung aus Text- und Musik ab, die man getrost „Musikkabarett“ nennen könnte, wenn sie nicht umso vieles facettenreicher wäre.
Der verheiratete vierfache Familienvater ist vor allem deshalb so erfrischend in seiner Wirkung, weil er völlig unorthodox Themen nebeneinander stellt – Beispiel: Kulturvermittlung für im Grunde völlig kulturferne Menschen. Zingsheim entwickelt hier das haarsträubend-unwahrschenliche Szenario eines kulturellen Sozialarbeiters, der Fußball-Hooligans am Kölner Hauptbahnhof in Empfang nimmt und gleich mal Sprechchöre anstimmt. Auf „Pablo“ echot es dann unter den versammelten Prolls zwar nicht „Picasso“, sondern „Pizarro“, aber in die Ausstellung kriegt er sie am Ende trotzdem. Seine ausgeprägte Begabung als Sänger am Klavier nutzt Martin Zingsheim dann ebenfalls für schöne Kontraste – es mag um einen Song für Veganer gehen, aber das Wort „Rumpsteak“ brüllt er im Rammstein-Modus, lecker.
Zwischen Musik mit viel originellem Text und Text „pur“ wechselt er gute zwei Stunden hin und her. Abgearbeitet werden so naheliegende Themen wie Corona und Nachhaltigkeit (angeblich Zingsheims Lieblingsstichwort), Erziehung und Selbstoptimierungswahn, aber auch Spezielles wie die Analyse von Filmmusik. Da gibt es etwa den „Klaus-Kinski-Akkord“, der in Edgar-Wallace-Verfilmungen zuverlässig zum Einsatz kam, wenn der schräge Klaus auf der Bildfläche erschien – so was muss man erst mal beobachten und fürs Kabarett herausfiltern! „Mehr Hollywood ins Leben“ empfiehlt Zingsheim allgemein und schlägt vor, mit dem Grusel-Akkord morgens doch mal die eigene Frau zu erschrecken. Womit wir beim Familienleben wären, dass der Künstler ebenfalls ins wilde Programm einstreut, Da gibt es „Elternteilchen“ und die Nummer, auf einen Telefonanruf der Klassenlehrerin mit lasziver Marylin-Monroe-Stimme zu antworten – Ergebnis: „Mein Ältester ist jetzt versetzungsgefährdet.“
Zingsheim hält im Grunde ein stetes Plädoyer fürs Nichtnormalsein, ohne dabei angestrengt abweichlerisch zu wirken oder gar „linksgrün versifft“ zu moralisieren. Rassismus und „AfD“ sind bei ihm nur Nebenaspekte, die für ihn längst geklärt zu sein scheinen und ihn womöglich nur noch langweilen. Er ist deshalb aber noch lange nicht unpolitisch – ihm liegt es vielmehr am Herzen, die selbsternannten Allesschaffer einzufangen bzw. auf den Teppich zu holen, vor allem die Macker. „Mann über Bord, Frau überglücklich“, kalauert er an dieser Stelle. Dazu kredenzt er einen wundervollen Blues von der Selbstüberschätzung: „Ich mach das schon. . . “ Normalität sei „ein Kampfbegriff, der dafür sorgen soll, dass man auf Linie bleibt“, wird Zingsheim zwischendurch ernst, nur um gleich darauf bildstarke Vergleiche zwischen Mittelalter um Neuzeit anzustellen: Für Diebstahl wurde einem früher die Hand abgehackt, „heute kommt ein Sozialarbeiter namens Holger“. Wir schalten zum Sport, wo der Kölner seine anarchische Ader mit „Blessurreiten“ und „Asynchronschwimmen“ auslebt. Oder zu Betrachtungen zur Tierpsychologie: „Ich habe noch nie ein depressiven Specht gesehen – die sind eher so manisch drauf“, hat Zingsheim erkannt. Und zu „Corona“ wäre noch anzumerken, dass er „innerfamiliäre Nachverfolgung“ betrieben haben will und dass das Virus einst vom Rotschenkelhörnchen seinen Ausgang nahm – mutmaßlich werde es daher wohl bald die Sprachschöpfung „rotschenkelhörnchenpositiv“ geben, so viel Zeit muss sein.
Ja, so viel intelligenten Blödsinn auf einmal hat man lange nicht serviert bekommen. Martin Zingsheim hat das gute alte Kabarett mit moderner Comedy in Einklang gebracht, wenn nicht gar versöhnt. Er selber nennt das „Ambiguitätstoleranz“, zu Deutsch: „Wenn wir ehrlich sind, haben wir doch alle einen an der Klatsche.“ Wir klatschen jedenfalls begeistert Beifall.
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