Nach(t)kritik
Schillerkiller am Neusiedlersee
Veranstaltung: Gerd Baumann & Marcus H. Rosenmüller: Wenn nicht wer Du!„Die Deutschen sind ein gemeingefährliches Volk“, sagte der Dichter Heinrich Heine einst, „sie ziehen unerwartet ein Gedicht aus der Tasche und beginnen ein Gespräch über Philosophie.“ Er hätte seine Freude gehabt an dem Abend mit Musiker Gerd Baumann und Filmemacher Marcus H. Rosenmüller. Da wurden viele Gedichte aus der Tasche gezogen, und philosophiert wurde auch - aber so vergnüglich, dass man am liebsten sofort eintreten möchte in diese Dichter-Bürogemeinschaft, in der das Equipment aus demselben herrlichen Unsinn besteht wie die dort entstehende Lyrik selber. Beispielsweise das Faxgerät: Gerd Baumann erzählt, dass sie sich anfangs für ein günstiges Gebrauchtgerät entschieden hätten, einen großen Kasten aus Holz mit Deckel, in den man das Gedicht hineingelegt und dann den Deckel geschlossen hätte, um den ganzen Kasten dann sogleich zum Empfänger zu tragen. Das sei aber auf die Dauer ziemlich umständlich gewesen, so dass nun ein neues Gerät angeschafft worden sei. Dieses aber habe den Nachteil, dass man das vom Empfänger angeforderte Gedicht hineinlege, eine Nummer wähle und dann nach dem Senden des Gedichts an den Empfänger dieses Gedicht - also das Original - eben auch weg sei. Das sind die Tücken einer Bürogemeinschaft aus armen Poeten.
Nun kommt es in der Regel eher selten vor, dass Kundinnen oder Kunden anklopfen und ein Gedicht in Auftrag geben, so wie bei der Schreinerin ein Regal oder beim Schneider eine Jacke. Da ist es hilfreich, einander selber die Gedichte zuzuspielen wie Bälle. Und das tun der Gerd und der Rosi: sie quatschen in Reimen, ratschen in Versen, parlieren und parieren und probieren, was die Zeile hält und worauf sie sich einen Reim machen können. Die Liebe zu Ringelnatz, Morgenstern oder Gernhard klingt da immer wieder durch, mal wird es kästnerisch melancholisch, dann wieder tucholskyesk, und auch Limericks wollen von ihnen geschrieben sein.
Das Themenspektrum erstreckt sich von Alltagsbeobachtungen über Liebe und Erotik bis zu Sehnsüchten und Unerreichbarem. So wie der Neusiedler See, mit dem beide wunderschöne Erinnerungen verbinden, auch Gemeinsamkeiten, vor allem jene, dass sie nie da gewesen sind. Aber Dichterinnen und Dichter brauchen Utopien, und manchmal haben sie sogar Visionen. Zum Beispiel die, zum „Schiller-Killer“ zu werden.
Das bosco-Publikum durfte an diesem Abend erleben, wie sich zwei Künstler am Tisch miteinander - und mit dem Publikum - ins Gespräch kommen, als säßen sie am Kneipentisch, besoffen allein von Sprache und Dichtung, zwei Genussmittel, die nun wahrlich nicht unter das Betäubungsmittelgesetz fallen. Und während sie sich mehr und mehr in den Rausch hineindichten, zuweilen unter Einsatz der von Gerd Baumann mitgebrachten Gitarre, wird allmählich die Erkenntnis deutlich, dass die schönste Poesie immer schon da ist, mitten im Alltag, wenn im Gespräch auf einmal Sätze fallen wie „Wenn nicht wer Du“. So lautet der Titel des Programms. Und eigentlich darf man diesen als Aufforderung verstehen.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.