Nach(t)kritik
Sonne in der Nacht
Veranstaltung: 8. Gautinger Bluesnacht: Al Jones & Ludwig Seuss Trio / Siggi Fassl soloNatürlich ist es richtig, dass die insgesamt fünf Musiker bei der Achten Gautinger Bluesnacht im Bosco ganz am Ende nach der eigentlichen Zugabe noch eine allerletzte spielen. Das Publikum jubelt, viele tanzen, was sollte man sonst tun, außer dem Rechnung zu tragen. Und doch ist es ein bisschen schade, dass sich die Band nochmal hinreißen lässt, denn welcher Zauber wird mit der folgenden Uptempo-Nummer aus dem Saal gefegt, was wäre dieser zuvor gespielte Slow Blues in Moll, dieses fragile, sinnierende, expressive, versonnene, eruptive Gemälde, für ein Schlussstatement gewesen!
Von Jon Lord, dem 2012 verstorbenen Organisten der Hardrock-Band Deep Purple, der auf seine alte Tage nicht nur zur klassischen Musik zurückkehrte, sondern auch erneut dem Blues verfiel, ist ein bezeichnender Satz überliefert und sogar auf CD verewigt: „For a musician, there’s nothing quite like playing a slow blues.“ Und wer es schon selbst getan hat und weiß, welch ein Kribbeln einen durchströmen kann, wenn man im langsamen Sechsachteltakt von der Tonika mit chromatisch verschobenen Septnonakkorden zur Unterquinte absteigt, der weiß, wie recht der alte Lord hatte. Man bekommt im Bosco das Gefühl, dass dies auch die fünf Herren auf der Bühne so empfinden: die Gitarristen Al Jones und Siggi Fassl und der Pianist und Keyboarder Ludwig Seuss mit seinem Trio – Tom Peschel am Bass, Manfred Mildenberger am Schlagzeug.
Für die letzten Nummern ist Siggi Fassl, der die erste Konzerthälfte bestritt, zu den anderen auf die Bühne zurückgekehrt – und wie hierbei nun zwei Stile vereint werden, ist großartig: Fassls Acoustic Blues und der elektrisch verstärkte Urban Blues der anderen. Diese Blues-Fusion ist gar nicht undelikat, denn die Vielschichtigkeit seines gezupften Akustikgitarrenspiels kann Fassl nun nicht mehr präsentieren; der Bandsound würde sie verdecken. Doch das ist für Fassl kein Problem; er macht eine Tugend daraus: Auf der Akustikgitarre ein so seidig singendes Solo zu spielen, als ließe ein britischer Blues-Gitarrengott seine legendär langsamen Hände über die Stratocaster gleiten, das ist vom Feinsten.
Schön ist Fassls Rückkehr auf die Bühne auch deshalb, weil er einfach der beste Sänger des Abends ist. Wenn er spricht und dabei wie der Österreicher klingt, der er ist, merkt man natürlich, dass man an diesem schneebedeckten Donnerstag mitten in Europa sitzt. Wenn er aber singt und seinen vollen Bariton tönen lässt, manchen Tönen eine kehlige Verzerrung beimengt, dann sieht man die Südstaaten.
Es hilft nichts. Die Dramaturgie dieses Textes muss hier anders abbiegen, als zunächst geplant. Weshalb sollte man den Bericht darüber, was Fassl in der ersten Stunde dieses Konzertabends vollbracht hat, hinauszögern, wenn man schon so in Fassl-Fahrt ist. Seine Musik ist herrlicher Purismus: ein Mann, seine Gitarre, seine Stimme. Eine rohe Musik ist das, die aus New Orleans und den umgebenden Mississippi-Sümpfen daherwatet. Direkt nach Gauting. Eine Musik voller unverbrämter Botschaft. Eine Musik, die älter ist als manches berühmte Werk der klassischen Musik. Und eine Musik, die man bei aller scheinbaren Simplizität mit hoher Virtuosität spielen kann. Wie Fassl auf der Akustischen oder der Resonatorgitarre die verschiedensten Klangerzeugungen, Klangfarben und Klangschichtungen vereint, ist wunderbar: kraftvollen Puls in tiefer Lage als Fundament, darüber lichte Einwürfe mit Flageoletttönen, dann wieder derber Rhythmus und metallisches Schnarren per Bottleneck. Hinzu kommen seine Geschichten über die Werke und wo er sie aufgeschnappt hat – mit all dem zieht einen Fassl, Bluessänger, Bluesspieler, Bluessammler und Blueserzähler, mit Macht und mit Charme in seine Blueswelt.
Ob er damit Al Jones und dem Ludwig Seuss Trio als eigentlicher Hauptband des Abends ein bisschen den Rang abläuft? Man will das so nicht formulieren, denn damit würde eine Konkurrenz unterstellt, die in keiner Weise existiert. Und sie würde der grandiosen Darbietung von elektrischem Blues nach der Pause nicht gerecht: Ludwig Seuss, der seit Ewigkeiten an den Tasten dazu beiträgt, dass die Spider Murphy Gang eine derart gute Live-Band ist, spielt den Blues einmal auf dem Akkordeon, oft auf dem Hammond-Keyboard, das er auf den Flügel gelegt hat, und ebenso oft auf dem Flügel, den er unter das Hammond-Keyboard gestellt hat. Wenn seine linke Hand den für linke Pianistenhände erfundenen Boogie-Woogie-Tanzschritt tanzt, und Seuss mit der Rechten seine Repetitionen, Skalen und Akkorde herausschüttelt, ist die Welt schön. Tom Peschel ist ein wundervoller Blues-Bassist voller unaufdringlicher Präsenz, Manfred Mildenberger ein Schlagzeuger, dessen Geschmeidigkeit und Einfallsreichtum in der Klangfarbengestaltung das reine Vergnügen ist. Und als nach zwei Nummern dieses Trios Al Jones als Bluesmeister auf die Bühne kommt und seine Halbakustikgitarre einstöpselt, dann weiß man schon nach den ersten Tönen, dass man später beim Heimfahren noch mehr Al Jones oder John Lee Hooker oder Muddy Waters anschalten wird, damit die warme Sonne, die Jones in dieser europäischen Nacht voller Schnee und Matsch aufgehen lässt, auch nach Konzertende weiterscheint.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.