Nach(t)kritik
Tanz oder Vorsorge
Veranstaltung: Theater Die Exen: Das Lied der GrilleEin Geheimnis gehört zu den besten Voraussetzungen für ein gelingendes Kindertheater. Es öffnet Ohren und Augen und manchmal auch den Mund und im Bauch sorgt es für dieses angenehme Kribbeln. Mit genau so einem Geheimnis beginnt „Das Lied der Grille“, mit dem Annika Pilstl vom Theater Die Exen in der bosco-Reihe Kindertheater in Gauting gastierte. Da ist dieses geheimnisvolle Klavier, dessen Tasten sich ganz von allein bewegen. Da ist die geheimnisvolle weiße Leinwand hinter dem Klavier, auf der wie von selbst mal schwarze, mal bunte Schattenbilder entstehen. Da ist der Mensch im Frack und weißem Rüschenhemd, den Annika Pilstl wie einen Variétékünstler spielt, mit klassischem Slapstick zu Beginn und Figuren-Menschen-Spiel und Erzähltheater im Anschluss. Und was für ein Geheimnis verbirgt dieser so geheimnisvoll agierende Erzähler unter seinem Hut?
„Dieses Klavier gehörte meiner Schwester“, beginnt der Befrackte seine Geschichte. Es ist ein besonderes Klavier, das seine Launen hat und nicht einfach so auf Kommando die Tastatur preisgibt. Kein Wunder, schließlich ist das Instrument über hundert Jahre alt und hat dementsprechend viel schon erlebt. Die Geschichte von der Grille beispielsweise, die im Gegensatz zu allen anderen Tieren, die auf der Wiese leben, den Sommer über keine Vorräte angelegt hat. Stattdessen hat sie auf der Geige zum Tanz aufgespielt und für ein Sommermärchen auf der Wiese gesorgt, so dass den anderen die Arbeit viel leichter von der Hand ging. Doch als nach dem Herbst der Winter Einzug hält, da besitzt die Grille nichts gegen den Hunger und die Kälte. Merkwürdigerweise können sich die anderen Tiere nun gar nicht mehr an die schöne Sommermusik erinnern und verschließen ihre Türen vor der bibbernden, um Einlass bittenden Grille. Und wäre der gemütliche Hamster nicht gewesen, sie wäre wohl jämmerlich erfroren.
Phantasievoll und poetisch entwickelt Regisseurin Kristine Stahl gemeinsam mit Annika Pilstl, von der die Idee zu dieser Produktion stammt, die Geschichte „Das Lied der Grille“. Das im Zentrum stehende Klavier ist mal die Wiese, mal der Hamsterbau - auf wundersame Weise klappt es über der Tastatur auf und gewährt Einblick in ein warmes Zuhause samt bunten Vorräten. Ein tanzender Schmetterling lässt den Sommer beginnen, ein taumelndes Blatt läutet den Herbst ein. Aus der Tasche des Variétékünstlers gezogene weiße Tücher werden zum Schnee, der die Grille bedeckt. Und über allem schwebt wie ein Atem, wie ein Himmel die Musik - zunächst die schreitende, das Sammeln der Vorräte im Takt bestimmende Klavierstimme, dann die tänzelnde, beflügelnde, verzaubernde Geige.
Mit wenigen, klar akzentuierten stimmlichen und gestischen Kennzeichen charakterisiert Pilstl die emsige, ihren Fleiß zur Tugend machende Ameise, das listige Eichhörnchen, den gutmütigen Hamster und die fragile, künstlerische Grille. Als diese auf Obdachsuche ist, erweisen sich die so sehr auf ihre Vorsorge bedachten Fleissarbeiter als kaltherzige Besserwisser: Hättest du mal auch vorgesorgt, hättest du halt mal an dich gedacht. Hätte hätte Fahrradkette: dass sie so begeistert getanzt haben im Sommer, dass mit dem Lied der Grille das Leben bunter und auch sinnvoller wurde, haben sie vergessen. Bis auf einen - und der wird ein Freund.
Die aufmerksame Stille im Publikum war der beste Applaus für dieses gelungene und so besondere Kindertheater. Hoffentlich vergessen die kleine Zuschauer „Das Lied der Grille“ nicht, wenn der Winter wiederkommt.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.