Nach(t)kritik
Traumspiel, Totentanz
Veranstaltung: Renaissance Theater Berlin: "Fräulein Julie" von August StrindbergEine Frau und ein Mann. Eine gesellschaftliche Umgebung, die beiden ihre Rollen zuweist - und eine Gegenwart, welche diese Rollen in Frage stellt. Ein Spiel, ein Tanz. „Fräulein Julie“ von August Strindberg in der Lesart von Regisseur Torsten Fischer, der Schauspielerin Judith Rosmair und dem Schauspieler Dominique Horwitz, ist ein dichtes, intensives Kammerspiel, das die Möglichkeiten des Geschlechterverhältnisses wie in einem Tanz auf begrenztem Raum auslotet.
Der Tanz wird dabei zum Motiv - ein Motiv, das Strindberg vorgibt: „Fräulein Julie“ spielt in der Mittsommerrnacht; Julie, die Tochter des Grafen, hat seit dessen Abwesenheit am Abend getanzt, allein, mit dem Personal. Mit einem Tanz beginnt diese Produktion des Residenztheaters Berlin, mit einem traumgleichen, wie ein Schattenspiel wirkenden Tanz, den Dominique Horwitz als Jean, Diener des Grafen, mit einem Auftritt aus dem Saal allein auf der Bühne beginnt und zu dem sich, eine Gerte vorausreichend, Judith Rosmair hinreißen lässt. Ein Traumspiel, ein Totentanz, in Anlehnung an zwei weitere Titel des schwedischen Dramatikers. Und mit diesem Bild des traumgleichen, aus dem Reich der Schatten zu entstammen scheinendenTanzes endet die Inszenierung nach eindrücklichen knapp achtzig Minuten. Ein langsamer Walzer trägt während dieser Zeit den Tanz und stellt gleichzeitig die einzige Ausstattung des leeren, nur mit einer zarten Laubschicht bedeckten Raumes dar, der wie in einer Kafka-Geschichte von Enge erzählt und von Ausweglosigkeit: auf metallenen, einen guten Meter hohen Sockeln steht die weiße Holzvertäfelung, in der sich auf jeder Seite eine Flügeltür auftut. Es sind hohe Wände, hohe Türen, die doch nur ins Nichts zu führen scheinen.
Oben und unten ist das zweite Motiv der Inszenierung. Im Drama von Strindberg markieren die gesellschaftlichen Positionen, wer oben und wer unten ist. Und schon der Dramtiker löst dies auf, als am Ende der Mittsommernacht der Diener, mit dem die Herrin geschlafen hat, sich zum Beherrscher dieser Frau ermächtigt. Fischer, Rosmair und Horwitz zeigen die vielen, sich stets wandelnden Machtverhältnisse, die zwischen einer Frau und einem Mann entstehen, welche das Oben. und Unten für sich und füreinander immer wieder neu definieren, entdecken, ausreizen und benutzen. Mal ist Julie diejenige, welche die Fäden zieht, mal ist es Jean. Mal treibt Julies Sehnsucht nach dem Fallen sie in die Tiefe, dann wieder dominiert sie Jean und genießt das Spiel der Domina. Jean orientiert sein Handeln anfangs stark an der gesellschaftlichen Akzeptanz und ordnet sich dieser gern unter, doch je mehr er sich auf Julie einlässt, desto größer wird sein Machtbewusstsein und seine Lust am Beherrschen - ohne dass er dabei sich selbst beherrschen könnte. Wie im Tanz lösen Oben und Unten einander ab, lassen sich nicht mehr eindeutig zuordnen - die Orientierung löst sich auf.
Judith Rosmair ist eine fast zeitlose Julie, sie lässt die Figur ebenso im 19. Jahrhundert zuhause sein wie in der gegenwart. Sie ist beherrscht im doppelten Sinne, anfangs noch selbstbeherrscht, dann immer mehr dem Außen unterworfen. Dabei lässt sie sich weniger in Jenas Gewalt bringen als in die ihrer eigenen seelischen Unruhe - eine zerrissene, von ihren eigenen Sehnsüchten überwältigte Frau, die darin dem Autor Strindberg nicht unähnlich ist.
Dominique Horwitz stattet Jean von Beginn an mit einer gewissen Lust am Herrschen aus. Er ist es, der den Tanz anführt, er steht sehr viel häufiger aufrecht über der sich wie ein Ast im Wind biegenden Julie. Wenn er schwankt, dann aufgrund von Überlegungen, wie wohl sein Auftreten nach außen wirken könne: ein kopfgesteuerter, den eigenen Körper beherrschender und nur dort, wo der Sex ihm dazwischenkommt, seinen Trieben unterworfener Mann.
Das Ende bleibt hier offen. Der Tanz der Geschlechter geht weiter, das Oben und Unten verwischt wie im Schwindel. Ob es ein Totentanz wird oder ein Traumspiel, werden die Tanzenden selbst herausfinden müssen.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.