Nach(t)kritik
Treibgut, zeitlos
Veranstaltung: Anja-Maria Luidl, Birgitta Eila und Sebastian Hofmüller: Zeit-Los!Birgitta Eila, die Pianistin, sitzt schon am Flügel, als das Publikum sich den Saal erobert, als es nach und nach Platz und gleichzeitig schon die Haltung der braven Klassikkonzertbesucher einnimmt. Darum wird auch kräftig „Pscht“ gezischelt, nachdem oben auf der Tribüne ein Herr laut redend die Treppen hinuntergeht. Es ist Sebastian Hofmüller, er eilt dem Podium entgegen und beginnt einen kleinen Monolog über die Zeit, mehr: über den Mangel an derselben. Dabei hastet er vor der ersten Stuhlreihe hin und her, begrüßt letzte Nachzügler unter den Zuschauern, wirft sich auf einen Achtzeiler von Erich Kästner - „Mein Reich ist klein und unabschreitbar weit./Ich bin die Zeit…“
Spätestens jetzt ist den meisten im Publikum klar, dass dies kein gewöhnlicher klassischer Liederabend wird. Und auch, als Anja-Maria Luidl auftritt und, begleitet von Birgitta Eila, zwei aus den „4 ernsten Gesängen“ von Johannes Brahms singt, mit großer Wärme und Klarheit und in einer klugen Balance zwischen Bauch und Kopf, zwischen Gefühl und Verstand - auch da bleibt der Abend spürbar im Außergewöhnlichen. „Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe/und ließe meinen Leib brennen/und hätte der Liebe nicht/so wäre mir´s nichts nütze“, heißt es in einem der beiden Lieder, in den Worten des Paulus an die Korinther.
Liebe als Gegenkonzept zur dem Schwinden anheimgegebenen Zeit - dies zieht sich als Motiv durch den dichten, neunzig Minuten währenden Abend. Katharina Luidl hat ihn konzipiert, hat eine Geschichte als Rahmen verfasst, die Sebastian Hofmüller im Dialog mit den beiden Musikerinnen als sprachliche Antwort auf die Musik von Brahms, Schubert, Wolf und anderen vorträgt. Es ist die Geschichte des Sängers Emil, dessen Lieder sich materialisieren: zunächst schneit es in sein Zimmer hinein, als er „Die Winterreise“ probt, dann füllt sich das Zimmer mit Fischen während seiner Arbeit an der „Forelle“. Immer mehr Dinge türmen sich um ihn her auf, ausgerechnet um ihn, der einst angetreten war, mit seiner Kunst die Welt der Nichtmaterie zu bewahren und der nun von der Materie heimgesucht wird. Am Ende kann er sich nur retten, indem er all die Dinge in den Fluss der Zeit setzt und davontreiben lässt. „La Mer“, singt Anja-Maria Luidl, und gemeinsam schauen sie dem Treibgut nach.
„zeit…los“, heißt das Programm aus Liedern, Texten von Kästner, Kafka und eben Luidl. Zeitlosigkeit ist damit ebenso gemeint wie das Los der Zeit, unserer Zeit, in der die Last des Materiellen den Zeitverlust nur beschleunigt und die Sinne erst wieder freigeräumt werden müssen, damit sie den Wert des Immateriellen wieder erkennen können. Denn auch ein klassischer Liederabend kann, selbst bei bestem Wohlverhalten und dem comme-il-faut des „bloß nicht zwischen zwei Liedern klatschen“ zum reinsten Konsum werden, wenn der Blick auf das Wesentliche verstellt ist.
Mit dem Gautinger Schauspieler Sebastian Hofmüller und der Stockdorfer Pädagogin und Autorin Katharina Luidl sowie der Sängerin Anja-Maria Luidl und der Pianistin Birgitta Eila wurde „zeit…los“ zu einem ganz besonderen „Heimspiel“ - fast so, als hätte der Sänger Emil all die aufgetretenen überflüssigen Dinge über die Würm auf die Reise geschickt.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.