Nach(t)kritik
Verzaubernd, verstörend und anrührend
Veranstaltung: Familie Flöz: Haydi!Hunderte von Flüchtlinge ertrinken im Mittelmeer, Österreich macht die Grenzen zu, Sicherheitskräfte erpressen Flüchtlinge – das waren die Meldungen des Tages. Am Abend dann, im Theater, verdichtet sich alles im Schicksal eines kleinen Mädchens, das sich alleine auf den Weg machen muss und das an einem unüberwindbaren Stacheldrahtzaun in den Armen eines Grenzbeamten stirbt.
„Haydi!“ ist die Geschichte einer Flucht. Und es ist eine Geschichte darüber, wie irgendwo in irgendeinem Land in irgendeinem Büro die Schicksale von Flüchtlingen verwaltet werden. Einzig ein rotes Kopftuch verbindet die eine Geschichte mit der anderen. Denn in diesem Büro, das ein bisschen an eine Polizeistation aus den Siebzigern und ein bisschen an Ikea erinnert, steht nicht das Schicksal der Flüchtlinge im Mittelpunkt, sondern eine High-Tech-Kaffeemaschine, die den Büroalltag taktet.
Pedro Solano kommt als neuer Mitarbeiter in diese Grenzbehörde, in der die globalen Flüchtlingsströme optimiert werden sollen. Mit seiner Abschlussarbeit an einer Eilte-Uni hat er sich als Führungskraft im „Border Management“ profiliert. Aber dann treffen gleich an seinem ersten Arbeitstag Theorie und Praxis aufeinander: die Verwaltung von vielen anonymen Zahlen und das Sterben eines einzigen Kindes. Das Kind hatte seine Eltern fast gefunden, es hält das rote Kopftuch in der Hand, das die Mutter bei der Flucht trug. Aber dann stirbt es. Zu weit war der Weg, zu hoch der Stacheldrahtzaun, zu bedrohlich Kälte und Sturm, zu schwach sein Rufen und Klopfen an den vielen verschlossenen Türen. Wer bei „Haydi!“ an „Heidi“ denkt, der liegt ganz richtig und ganz falsch zugleich.
Der ehrgeizige Flüchtlingsmanager nimmt das rote Kopftuch mit ins Büro und heftet es in den Aktenordner, der nun von Schreibtisch zu Schreibtisch geht. Aber niemand will hinschauen. Man möchte Akten abstempeln und weiterreichen. Denn eigentlich haben die Mitarbeiter anderes zu tun. Kaffee trinken zum Beispiel. Flirten. Essen. Karriere machen. Die Weihnachtsfeier vorbereiten. Die eigenen Wohlstandsneurosen pflegen. Es herrscht hektische Betriebsamkeit, vor allem mittags in der Kantine. Alle sprechen, aber jeder eine andere Sprache. Es geht um Grenzen, aber um Grenzen und Abgrenzungen im Spiel der Geschlechter und in der Hierarchie der Arbeitswelt. Für Einzelschicksale von Flüchtlingen, schon gar nicht für Akten, die sich nicht abheften lassen, weil ein rotes Kopftuch aus ihnen herausschaut, ist hier keine Zeit. Aber Pedro Solano wird die Bilder des sterbenden Kindes nicht los. Am Ende wird er selbst das sterbende Kind.
Die jüngste Produktion der 1996 gegründeten internationalen Theatertruppe „Familie Flöz“ mit Sitz in Berlin verdichtet das – für die meisten wohl immer noch abstrakte – Thema Flüchtlinge auf ungemein packende Weise. Alle Register der Schauspielkunst werden hier gezogen: Improvisation, Grammelot, Pantomime, Tanz, Slapstick und natürlich das Maskenspiel, für das die Gruppe bekannt ist. Scheinbar unvereinbares wird kombiniert, nicht nur Komödie und Tragödie verschmelzen hier miteinander, auch die Videoproduktionen mit dem Bühnenspiel, die Kulissen mit den Requisiten, die Sprache mit dem Sound, die Kostüme mit den Masken und schließlich auch die Schauspieler mit den Puppen. Ein großartiges Theatererlebnis, das mitreißt und zugleich befremdet, das verzaubert, verstört und anrührt.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.