Nach(t)kritik
Vielleicht morgen schon
Veranstaltung: Johanna Schlüter: Kathputli Colony
Und dann, eines Tages, wird das alles verschwunden sein. Der Magier, der Zerstörtes wieder zusammenwachsen lassen kann. Der Affentrainer mit seinen mageren Tieren. „Wir wissen selber nicht mal, was wir sind: Künstler, oder einfach bloß Arme?“ Die alte Frau in dem schäbigen grünen Raum, in dem sie am Boden hockt zwischen Habseligkeiten. Und Kesar Bhutt, der Puppenspieler. Puppenspieler wie sein Vater, sein Großvater. „Wir wollen diesen Flecken nicht verlassen“, steht sein Zitat neben seinen Fotoportrait, „aber wenn wir doch müssen, dann wollen wir uns unsere Häuser selber bauen. Das ist alles.“
„Kathputli Colony“, lautet der Titel einer Fotoausstellung, mit der sich die Kulturföderpreisträgerin des Landkreises Starnberg, Johanna Schlüter, im bosco vorstellt. Die junge Fotografin hat sich im Rahmen ihrer Bachelorarbeit im Studiengang Fotodesign an der Hochschule München mit den Bewohnern der Kathputli Colony auseinandergesetzt, jenem Slum im Nordwesten Delhis, der zugleich die größte Künstlerkolonie weltweit ist. Seit mehreren Generationen leben hier Artisten, Magier, Feuerspucker, Akrobaten, Schlangenbeschwörer und andere Straßenkünstler. Begonnen hatte es mit einem Zeltlager reisender Puppenspieler, die nach und nach ihre Zelte in festere Unterkünfte umgebaut haben, die ihre Familien hier gründeten, ihre Kinder zu Puppenspielern ausbildeten später auch zu anderen Straßenkünstlern. Doch die Stadt Delhi wächst und wächst und mit ihr nach und nach der Wohlstand sowie das Bedürfnis nach Wohnraum. Der Grund, auf dem die Künstlerkolonie gewachsen ist, gehört der Regierung Delhis, und diese hat ihn irgendwann vor ein paar Jahren an einen Bauunternehmer verkauft, der nun möglichst viel Wohnraum auf der Fläche entstehen lassen möchte. Der Slum ist im Weg, und mit ihm die Künstler. Viel Zeit bleibt ihnen nicht, doch sie geben nicht so einfach auf.
Stolz. Würde. Trotz, Wut und Enttäuschung steht in die Gesichter der Portraitierten geschrieben. Johanna Schlüter zeigt sie in ihren Slumhütten, vor ihrem Zuhause, das häufig von intensiver Farbigkeit ist. Farben dominieren, bestimmen das Bild, seine Stimmung. Erdfarben, Naturfarben, wie man sie von Blumen kennt oder kostbaren Stoffen. Die Farben Indiens. Lebendige Farben. Archaisch. Die Moderne, die mit den Neubau-Hochhäusern hier Einzug halten soll, mit ihrem Glanz, ihrem Stahl, Beton und ihren ganzen vielen Gütern, ist nirgends zu sehen und scheint so gar nicht hierher zu passen. Wird aber kommen. Das Wissen darum steht ebenfalls in den Gesichtern der Künstler. „Wir werden uns gegen die Bulldozer wehren“, sagt Kesar Bhutt, der Puppenspieler. Ein Kampf gegen Windmühlen. Und auch davon erzählen die Portraitfotos.
Johanna Schlüter ist durch den Trailer zum Film „Tomorrow we disappear“ (der im Anschluss an die Vernissage im Saal gezeigt wurde) auf die Geschichte der Kathputli Colony und ihrer Bewohner gestoßen. Über Facebook gelang ihr die Kontaktaufnahme zu einem der Bewohner, der sie einlud, zu kommen. Mit ihrer Fotoausrüstung reiste Johanna Schlüter nach Delhi, lebte eine Zeitlang in dem Slum, kam mit den Bewohnern ins Gespräch, ließ sich ihre Geschichten erzählen. Das Ergebnis sind die Portraitfotos, die sie in ihrer Bachelorarbeit dokumentiert, für die sie den Kulturförderpreis des Landkreises Starnberg erhielt und die nun im bosco bis zum 24. Februar zu sehen sind.
Es sind Bilder einer zum Untergang verurteilten Welt. Straßenkünstlerkolonien haben keinen Platz mehr im neuen Indien, in der neuen globalen sauberen Welt. Vielleicht ist das Leben in einer Neubauwohnung auch für Künstler angenehmer als in einem Slum, in dem das Abflusswasser durch die Decke tropft. Aber mit dem nicht wegzuromantisierenden Elend verschwindet eben auch die Freiheit, zusammen mit meterhohen Puppen und lebendigen Affen, mit Kindern und Großeltern und der ganzen Geschichte einer Artistenzunft zu leben. Vielleicht ist das alles morgen schon verschwunden.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.