Nach(t)kritik
Vom Bösen verpestet
Veranstaltung: Deutsches Theater Berlin: "Die Pest" nach Albert CamusMit einer Ratte beginnt es. Mit einer einzigen zunächst. Eine tote Ratte im Hausflur? Der Hausmeister schüttelt den Kopf, das könne gar nicht sein, nicht in seinem Haus, die müsse, wenn überhaupt, von jemand anderem hereingetragen worden sein, von außen, von Fremden. Am nächsten Tag sind es schon zwei tote Ratten, und noch immer wiegelt der Hausmeister ab. Als es dann immer mehr werden, ist er selber bereits infiziert und hat nicht mehr lange zu leben.
„Die Pest“ von Albert Camus, entstanden während des Zweiten Weltkriegs, erschienen im Jahr nach dessen Ende, ist die literarische, Roman gewordene Reflexion eines philosophischen Schriftstellers auf Krieg und Zerstörung, auf Ohnmacht, Gewalt und Besessenheit - auf das Böse, das dem Menschen innewohnt. Zunächst als Parabel auf den Faschismus, auf Judenverfolgung und Stalinistische Schauprozesse verstanden, hat dieses Buch bald an nachhaltiger Gültigkeit gewonnen und erzählt in Zeiten von Kaltem Krieg, in Zeiten von Naturzerstörung, in Zeiten von Migration und Elend immer wieder vom Aufbegehren gegen die Unmenschlichkeit. Dass „Die Pest“ gegenwärtig wieder auf den Bestsellerliste steht, verwundert nicht angesichts einer Pandemie, die neben wissenschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Versuchen, darauf zu antworten, auch sehr viel Seltsames in den Menschen wachruft, sehr viel Böses zutage treten lässt.
Als das Deutsche Theater Camus` Roman in der Bearbeitung fürs Theater von Andras Dömötör und Enikö Deés auf den Spielplan setzte, ahnte noch niemand etwas von einem aggressiven Virus. Noch die Premiere im November vergangenen Jahres stand in einem anderen gesellschaftlichen Kontext. Mittlerweile hat die Welt sich verändert, und das große Interesse an Auseinandersetzung, an ein Befragen der Literatur zeigt sich auch am - den Vorgaben gemäß der Hygienemaßnahmen entsprechend - ausverkauften Saal des bosco.
Was das Gautinger Publikum in den dichten 80 Minuten ohne Pause erleben durfte, war großartiges Theater. Schauspieler Bozidar Kocevski entfaltete in seinem Monolog die gesamte Verwandlung einer satten, wohlhabenden Stadt in ein Inferno des Grausamen und Absurden. Zu Beginn sitzt er mit dem Rücken zum Publikum auf der dunklen, leeren Bühne, an deren Hinterseite ein Stapel Stühle steht, in einiger Entfernung davon ein Ventilator. Mit ruhiger, nur ganz unterschwellig von Fassungslosigkeit geprägter Stimme erzählt er die Chronik eines vorhersehbaren und dennoch lange ausgeblendeten Sterbens. Erzählt es aus der Perspektive eines, der überlebt hat und die Tage Revue passieren lässt, einen nach dem anderen. Es ist die Stimme des Arztes Bernard Rieux, der durch die Tage der Pest taumelt wie einer, der seine Aufgabe ausfüllt. Der die Menschen der Stadt weitermachen, den Erreger leugnen oder ihn ahnen, in Panik verfallen, erkranken, sterben sieht und der nach und nach alle Stimmen der Stadt in sich vereint. Kocevski wird zum Hausmeister, zum Journalisten aus Paris, zum Schriftsteller, zu all den anderen, die dem Arzt begegnen. Immer schneller, immer eindringlicher wird dieser Monolog aus vielen Stimmen. Währenddessen greift Kocesvki immer wieder Stühle vom Stapel, hält sie mal am ausgestreckten Arm, balanciert mal von der Sitzfläche auf die Lehne, und immer wieder fallen die Stühle, fallen wie die Menschen, die der Pest zum Opfer fallen. Die zu Asche werden, wie die immer wieder vom Ventilator im Lauf des Abends aufgewirbelten schwarzen Papierfetzen es verbildlichen. Alles wird von diesen schwarzen Fetzen bestäubt, wird verpestet.
Verpestet sein - das ist der Zustand der Stadt Oran, in der die Geschichte spielt. Es ist der Zustand einer Menschheit, die gar nicht anders kann als schuldig werden und die mit dieser Absurdität leben muss. Es gibt nur einen Ausweg: es erkennen. So wie Rieux es erkannt und sich der Aufgabe gestellt hat, dem Bösen sich zu widersetzen. So wie Sisyphos aus Camus`berühmtem Essay immer wieder den Stein den Berg hinauf gerollt und von uns anderen gefordert hat: wir müssen ihn uns als glücklich denken. Glücklich denken. Das ist die Vision, die Camus der Absurdität des Bösen entgegenstellt.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.