Nach(t)kritik
Von der Lebensgier eines Todgeweihten
Veranstaltung: Sabine Zaplin und Stefan Fichert: Ostende 1936 - Sommer der FreundschaftAls Joseph Roth 1930 den Roman „Hiob“ schrieb, ahnte er womöglich, dass er ein ähnliches Schicksal erleiden würde wie der jüdisch-orthodoxe Thora-Gelehrte Mendel Singer, den er in „Hiob“ an Gott verzweifeln lässt: Auch der in Brody gebürtige Schriftsteller Roth war, wie Mendel Singer, ein von Schicksalsschlägen erschütterter, ins Exil vertriebener Jude. Als er 1936 im Fluchtpunkt Ostende als todgeweihter Alkoholiker noch einmal einen intensiven Sommer und eine letzte Liebe zur Schriftstellerin Irmgard Keun erleben darf, kumuliert sein Leben in einem totentanzartigen Rausch aus Lust, Kreativität und abgrundtiefer Verzweiflung: Der Autor Volker Weidemann hat Roths Begegnung mit Keun und seinem alten Freund Stefan Zweig in „Ostende“ ein literatur-historisches, dichtes Werk gewidmet, das Sabine Zaplin und Stefan Fichert in Auszügen am Vorabend der „Hiob“-Inszenierung des Thaeter Wuppertal im Bosco vortrugen.
Es ist ein letzter, ahnungsvoller Sommer am Meer, der Roth, Keun, Zweig und etliche andere, von den Nazis aus Deutschland verjagte Schriftsteller in Ostende zusammenführt: Sie alle mussten das Land der Bücherverbrenner hinter sich lassen, sie alle wussten nicht, ob sie in Europa noch eine Zukunft haben würden. Aus dieser Extremsituation zwischen Entwurzelung, Angst und schwindender Hoffnung auf Rückkehr in die Nicht-mehr-Heimat erwachsen Begegnungen zwischen Menschen, die den Boden unter den Füßen verloren haben. Begegnungen wie jene zwischen Keun und dem sehr viel älteren Roth, die in einer von den Anderen mit Erstaunen registrierten Liaison mündet – Volker Weidemann schreibt: „Roth fühlt sich dem Tode nahe. Sein Zimmer sehe aus wie ein Sarg.“ Als dessen alter Freund Stefan Zweig seinetwegen von Amsterdam nach Ostende kommt – ebenfalls „auf der Flucht“, aber eher vor seiner Ehe als vor Verfolgung, notiert Weidemann: „Und jetzt also: über die Grenze, fort von Nervenzusammenbrüchen und einer Liebe, die vorüber ist. Auf ans Meer, ins Bistro, zu einem Freund...“
Es sind lauter buchstäblich Gestrandete, die an diesem Meer einen „Sommer der Freundschaft“ (Roth/Zweig) oder einen „Sommer der Liebe“ (Roth/Keun) erleben werden. Irmgard Keun, Nicht-Jüdin und damals offenbar eine sonnengebräunte Attraktion, sagt später über ihre Begegnung mit Joseph Roth, sie habe „nie zuvor und nie danach einen Mann von so großer sexueller Anziehungskraft“ kennengelernt. Sie bezeichnet ihn aber auch als den „besten, lebendigsten Hasser“. In Ostende gestrandet sind auch noch der literarische Journalist Egon Erwin Kisch, die Schriftsteller Hermann Kesten und Ernst Toller – und eben Zweig und Keun, die beiden wichtigsten Bezugspersonen für Joseph Roth in diesen seinen drei letzten Lebensjahren. Während der finanziell noch immer gutsituierte Zweig dem zunehmend verwahrlosten Freund Hose und Rock maßschneidern lässt, entwickelt sich Roths Liebe zu Keun zu einer häufig im „Café Flore“ eifersüchtig ausgetragenen „Schreib-Olympiade“ - Keun hat inzwischen alle Werke Roths gelesen, er kennt kein einziges von ihr, so Weidemann. Allen Exilanten gemeinsam ist die Kunst des Verdrängens: Sie spüren, dass es für sie keine Rückkehr nach Deutschland mehr geben wird, die Nachrichten aus Berlin sind eindeutig. Gemeinsam ist ihnen allen auch die Sorge, dass sich das übrige Europa wird täuschen lassen von diesem Hitler-Deutschland, das sich im Vorfeld der Olympiade 1936 „verkleidet“ und alles Judenfeindliche vorübergehend aus der öffentlichen Wahrnehmung getilgt hat – Weidemann führt hierzu einen bitteren Dialog an: „Der Stürmer wird seit Wochen zensiert. Und zwar nicht, um regimefeindliche Äußerungen zu tilgen, sondern antisemitische Passagen“, berichtet Ernst Toller. Daraufhin höhnt Joseph Roth: „Sehr gut! Dann verkaufen sie jetzt weißes Papier!“
Trotz seines wandelnden, wohlmeinenden „Gewissens“ Stefan Zweig und trotz des in Belgien damals geltenden Schnapsverbots wird Roth sich in Ostende an Irmgard Keuns Seite weiter zu Tode trinken. Weidemann: „Zwei Stürzende, die Halt beieinander finden, für eine kurze Zeit.“ Die Welt, Roths „altes“, zivilisiertes Europa, es scheint endgültig dem Untergang geweiht wie er selbst. Weidemann schreibt: „Die Welt will schlafen, um ihn Frieden zu leben. Und die kleine Ostende-Gruppe hasst ihre Machtlosigkeit, hasst sie bis zur Verzweiflung.“ Als Joseph Roth im Mai 1939 in Paris die Nachricht vom Selbstmord des nach New York geflohenen Ernst Toller erhält, bricht er zusammen und stirbt wenige Tage später im Spital. Der nach London gegangene Stefan Zweig schreibt erschüttert: „Wir werden nicht alt, wir Exilierten.“ Und über Roth: „Ich habe ihn wie einen Bruder geliebt.“ Roths letztes Werk trug den Titel: "Die Legende vom heiligen Trinker".
Als die kerzenbeleuchtete Lesung von Sabine Zaplin und Stefan Fichert in der „bar rosso" zu Ende geht, ist noch einmal Meeresrauschen vom Band zu hören. Man meint, die Stimme von Charles Trenet zu vernehmen, sein unvergessliches „La mer“. Der Sommer von 1936 in Ostende, er muss existentiell und intensiv gewesen sein, gewiss kein Ferien-Sommer. Doch er ist lange vorüber.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.