Nach(t)kritik
Wenn der Arzt kommt
Veranstaltung: Arnulf Rating: Zirkus BerlinDie Zeiten sind nicht lustig, auch im verwöhnten Deutschland nicht. Wer wüsste das besser als einer wie Arnulf Rating, der mit seinen Kabarett-Programmen schon CDs bespielt hat, die „Bonner Zeiten“ hießen? Längst ist die Berliner Republik eingekehrt, sind vertraute Bezugsgrößen bzw. Feindbilder wie Franz-Josef Strauss, Egon Bahr und Herbert Wehner nicht mehr da, und auch die Reihen des klassischen politischen Kabaretts haben sich merklich gelichtet. Doch gibt es da immer noch den Einen, der als wandelndes Gedächtnis Nachkriegsdeutschlands den mahnenden Finger hebt und fragt: „Warum passiert da nichts?“ Dieser Mann mit der hohen Stirn stammt eigentlich aus Mülheim, lebte aber seit Jahrzehnten erst in Berlin-West und dann in der ungeteilten Hauptstadt. Gründete nach eigenen Worten die „taz“ mit, eroberte dann die Bühnen des Landes, wurde dort quasi der Zeitungsausträger vom Dienst, der uns die gesammelten Hiobsbotschaften mundgerecht serviert: „Zirkus Berlin“ heißt seit einiger Zeit seine aktuelle Bestandsaufnahme, die der 71-Jährige auch beim inzwischen fünften bosco-Gastspiel wieder in gewohnter Faktendichte lieferte.
Ratings Stärke, das fast übergangslose Stichwort-Staccato mit schön zugespitzten Formulierungen („Politiker ist kein Ausbildungsberuf, ist ´ne angelernte Tätigkeit, so was wie Leergutannahme“), wächst sich bei gut zwei Stunden „Strecke“ aber auch zur Schwäche aus. Der schiere Overkill an abzuarbeitenden Themen und vor allem „BILD“-Schlagzeilen – von Aggressionskrieg bis Zeitenwende, von Pandemie bis Heizproblem – er führt dazu, dass der Zuhörer kaum noch die einzelne Pointe genießen kann, weil er angestrengt bemüht sein muss, die nächste nicht zu verpassen. Das Marktschreierische der Boulevard-Zeitungen, es löst in der von Rating buchstäblich stapelweise präsentierten Masse im Gegensatz zu früher heute kaum noch Amüsement aus, sondern bestenfalls Achselzucken: Man kennt den schrillen Unsinn schon ewig und winkt innerlich stumm ab, ehe der politische Kommentar des Kabarettisten die Vorlage überhaupt originell einordnen und kommentieren kann. Der Themenkomplex Pandemie und Panikmache nimmt dabei einen verdächtig großen Raum ein: Und weil „Corona“ bei vielen Zeitgenossen eben auch üble Nebenwirkungen geistiger Art zu Tage brachte, verfängt hier so recht auch keine relativierende Komik – die Seuche ist noch nicht durch, Dummheit und Leichtsinn auch nicht. Rating misstraut staatlich verordneten Maßnahmen, und das ist grundsätzlich nicht verkehrt, aber Virologen-Bashing ist genauso überflüssig.
Auf anderen Feldern tummelt sich der Schlagzeilen-Postillion um einiges stilsicherer: „Wenn der Russe kommt, Helmpflicht!“ zieht er über den neuen deutschen Bellizismus her. Und Außenministerin Anna-Lena Baerbock als „Völkerball-Expertin“ zu bezeichnen, ist herrlich kreativ und inkorrekt. An dieser Stelle kommt auch wieder der Zitaten-Vorrat Ratings zum Fronteinsatz, etwa mit Wolfgang Neuss: „Wir sind die Kinder und Enkel von Mördern.“ Stimmt ja, im Großen und Ganzen. Dann wiederum ein wenig Provinz, diesmal mit dem „Starnberger Merkur“, den Rating als „meine tägliche Lektüre“ in seine Presseschau einsortiert hat – wenn auch nur den Service-Teil „Gelenkbeilage“. Die aus dem Fußballerischen entlehnte Humor-Technik aus Vorlage und Verwandeln, sie funktioniert noch ganz gut, wenn sich der Berliner eine weitere „BILD“-Headline vorknöpft: „Jeder 6. muss auf Mahlzeiten verzichten!“ empört es sich da, und Rating erdet: „Das haben die Ärzte schon jedem Zweiten geraten.“
Im Jahr 2022 nicht mehr frisch genug wirken hingegen die Verkleidungsnummern als „Schwester Hedwig“ (Ex-Kanzlerinnen-Nurse), „Low Performer Karl-Heinz“ (als Proll im Pulli), Arzt-Muffel „Dr. Mabuse“ oder neoliberaler Darwinist, der mit seiner App "Cash & Go" laut übers Dezimieren der Weltbevölkerung nachdenkt. Und der naheliegende Satz über die FDP („Wir haben gedacht, dass die gelben Säcke mittwochs abgeholt werden?“) ist so neu auch nicht mehr. Mit Beamer-Projektionen hat Arnulf Rating, ähnlich wie der Kollege Werner Kocwara („Mein Schaden hat kein Gehirn genommen“) gegenüber dem reinen Zeitungsbotenwesen ein wenig aufgerüstet: Da gibt es dann bei IKEA den Langtisch „Putin“ für 599,99 im Angebot. Ist witzig, täuscht aber nicht darüber hinweg, dass pures Stichwortgeben nicht die einstige Tiefenschärfe Ratings ersetzen kann.
Wie gesagt, die Zeiten sind nicht lustig ("Die Clowns wechseln, der Zirkus bleibt der gleiche"), und viele Könner ihres Kabarett-Fachs entwickeln momentan eine Form von heiterer Resignation. Weil es ihnen aber ernst sein muss mit dem Humor, sollten sie über Schlagzeilen hinausweisen und ihre Kunst nicht zu leicht konsumierbar und gefällig machen. Ein Arnulf Rating kann so viel mehr, wenn er denn noch will.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.