Nach(t)kritik
Wenn die Sterne eifersüchtig werden
Veranstaltung: Youkali: Tango argentinoEine derart charmante Zugabe dürfte das durchaus mit originellen Zugaben verwöhnte Bosco nicht oft erlebt haben: Sandra Nahabian, die vielseitige Sängerin der Gruppe „Youkali“, steigt erst gegen Ende des Instrumentalstücks ein und gibt in metronomischer Genauigkeit Klicklaute von sich – so lange, bis Gitarrist Niki Stein schließlich aufsteht und sie mit einem klingelnden Wecker sozusagen stoppt: Das vokale Räderwerk kommt zum Stillstand, das Publikum tobt. Nahabian ist in Argentinien geboren, hat aber armenisch-italienische Wurzeln. Die Musik sephardischer Juden ist eines ihrer künstlerischen Betätigungsfelder, für die seit über 20 Jahren bestehende Formation „Youkali“ wiederum bedeutet Nahabian geradezu ein Geschenk von einer Stimme – ob sie spanisch, portugiesisch, franzö-sisch, italienisch oder auf Deutsch singt. Im „Bosco“ war Nahabian mit ihrem feuerroten Oberteil auch rein optisch der Farbtupfer, denn die fünf anderen, allesamt klassisch ausgebildeten Instrumentalmusiker verströmten auf den ersten Blick vor allem die Seriosität eines hochdisziplinerten Quintetts.
Auf den zweiten Blick allerdings und mit zunehmend fortschreitendem Konzertabend erweisen sich „Youkali“ als geradezu lockere, äußerst geschmeidige Interpreten vor allem des modernen, von Astor Piazzolla thematisch erweiterten Tango argentino: „Die Art, wie sie mit kalter Unterlippe den Kaffee bestellte“ ist so eine Textpassage aus „Ti último caffè“, die von Nahabian erst auf Deutsch rezitiert und dann auf Spanisch mit warmen Timbre interpretiert wird – angesiedelt sind diese Zeilen exakt an der Nahtstelle zwischen sozialer Beobachtung und schmachtender Melancholie. Sie machen, als betörender Gesang dargebracht, sogar die Sterne eifersüchtig (siehe Liedtext), lassen Bilder im Kopf entstehen, bedeuten ein Gelingen - wie bei jeder guten Musik. Ulrike von Sybel-Erpf (Violine), Gisela Auspurg (Violoncello), Thomas Schaffert (Kontrabass), Niki Stein (Gitarre) und der Arrangeur der meisten „Youkali“-Stücke, Akkordeonist Walter Erpf, haben den Namen ihrer Gruppe von einem Tango habanera-Stück Kurt Weills in d-Moll abgeleitet, welches dieser 1934 für seine Oper „Marie Galante“ (nach einem Roman von Jacques Deval) geschrieben hatte - „Youkali“ steht darüber hinaus „für ein imaginäres Land der Wünsche und Hoffnungen“, wie Walter Erpf zwischendurch erklärte: Tango ist - grob gesagt, das musikalische Sammelbecken für alle emotional Exilierten, für ver-lorene Heimatländer, gescheiterte Utopien und verlustig gegangene Frauen (und Männer).
Hatte man vor allem im ersten Teil des Bosco-Abends noch ein wenig Sorge, dass die Akteure sich solchen Abgründen menschlicher Seelenzustände ein Stück weit zu „akade-misch“ nähern würden, also mit der erwähnten kammermusikalischen Perfektion, so zerstreuten sich derlei Befürchtungen immer mehr, je länger „Youkali“ sich warm spiel-ten: Es begann instrumentell zu funkeln und zu knistern, auch Dank des Seelenfeuers, das Sandra Nahabians Stimme stets aufs Neue entfachte – mal eine Tango-Adaption von Edith Piaf imperuanischen Valse-Stil, dann ein portugiesischer Fado, schließlich ein wehmütiges italienisches Volkslied in Kombination mit einem Osterlied aus Salento. „Mein Gesang ist kein Weinen, es ist das Stöhnen der Agonie“, rezitiert Nahabian unmit-telbar vor dem Fado das, was gleich kommen wird an Erschütterung. Es ist dieses kongeniale Zusammen-wirken von klassisch-konzertantem Können und mitreißender Emotion, die „Youkali“ so einmalig macht: Geschöpft wird übrigens auch aus den Préludes von Claude Débussy, aus den kurzen Klavierstücken „Visions fugitives“ von Sergei Prokofjew und – natürlich – aus dem reichen Schatz an Stücken des „Milonga“, jener angeblich „fröhlicheren Schwester des Tango“, die es gerne ähnlich melodramatisch hat: „Du warst wie die Straße der Melancholie, wie Regen in meinem Herzen“ heißt es in „Maria“, und Nahabian ist mit augenzwinkernder Hingabe in ihrem Element.
Heutzutage müsse „jedes Blockflötenquartett“ einen Piazzolla bringen, lästert Walter Erpf zwischendurch ein wenig "volksfern", und man entscheidet sich dann für eine engelsgleiche Melancholie-Nummer mit dem Titel „Milonga del angel“. Mit etwa 20 Stücken wird das Bosco-Publikum an diesem Abend beschenkt – es dankt mit überwältigendem Applaus.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.