Nach(t)kritik
Ziemlich beste Feinde
Veranstaltung: Stefan Hunstein: Die Wörter ruinieren das Denken„Das ist keine fixe, feste Vorstellung, es muss lebendig bleiben“, sagt Stefan Hunstein nach seinem Solo, das er die „Gautinger Fassung“ nennt. Da hat er sich gerade „drei Minuten lang entkabelt“ und ist noch einmal extra auf die Bühne zurückgekehrt, um dem bosco-Publikum zu erläutern, „wie das alles gekommen ist“: Gerade war er am Düsseldorfer Schauspielhaus als „Faust“ zu erleben, jetzt ist Hunstein in Gauting und gibt gleich mal zum Spaß den affektierten Star, der in der Provinz tingeln muss: „Was, hier – in dieser muffigen Atmosphäre?“ So läuft sich einer warm, der anschließend über eine Stunde lang all das auskotzen wird, was einem Bühnenschauspieler mit rund 35 Jahren Text-Last die Synapsen schmoren lässt - „Die Wörter ruinieren das Denken“, lautet seine selbst verfasste Sprech-Collage aus Klassiker- und Lyrik-Zitaten, aus eigenen kulturphilosophischen Gedanken, assoziativen Kompositionen und Geräuschen (Axel Nitz), ein Parforceritt durch den dröhnenden Schauspieler-Kopf, der nicht mehr abschalten kann.
Hunstein hat diese Form der entgiftenden Reflexion auch schon an den Münchner Kammerspielen und am Schauspiel Frankfurt vorgeführt, und man könnte meinen, er macht das, um nicht durchzudrehen: Wörter mit „Ö“, Sprech- und Lautübungen für die Bühne. Wie zufällig eingestreute (angebliche) letzte Worte Goethes auf dem Sterbebett („Mehr Licht!“). Ein Fetzen „König Lear“, ein Lichtschein von Karl Kraus´“Fackel“: Es war, als ob die Menschheit auf der Wandrung wäre...und – wie passend: „Meine Lage verlangt, dass ich mit Waffen, nicht mit Worten schlage.“ Hallt da nicht die Goebbels´sche Sportpalast-Rede nach? Es brummt jedenfalls der Schädel des sich Entäußernden, es türmen sich die inneren und äußerlich hörbaren, teils gesampelten Stimmen zu kakophonen Klanggewittern, die Axel Nitz tüchtig schürt: „Es gibt schon einen Plan, aber Vieles ist auch spontan“, sagt der Zitate-DJ hinterher in aller Unschuld. Hunstein ist es aber nicht um bloße Logorrhoe zu tun, er denkt, permanent assoziierend, übers Denken nach – und spricht abermals mit Johann Wolfgang: „Was man nicht weiß, das eben brauchte man; und was man weiß, kann man nicht brauchen!“ Der Stoßseufzer des Menschen über den vielen, unnützen Wissensballast, bei Hunstein wird er zum fulminanten Zeugnis der Heimsuchung durch all die hundert Mal rezitierten Texte, die fortspuken, wenn das Theaterlicht längst erloschen: „Oh, wie mir schwarz wird vor Augen / Denk ich an Athen...“ Alter Grieche!
Es ist ein Blick in die Memorier-Arbeit des Bühnenakteurs, in seine Werkzeugkammer voller Monolog-Ketten, ein Besuch bei einem Gefangenen und den Geistern, die er rief und die er immer wieder ruft: „Ich bin den anderen Weg gegangen...“, sagt Hunstein à la Robert Frost an einer Stelle, als wolle er die selbstgewählte Tyrannei der fremden Dichter-Worte irgendwie relativieren. Denn er weiß ja auch: „Die Welt will unterhalten sein, aber sie gehört verstört!“ Und Mitleid will er schon gar nicht: „Wer einem Künstler hilft, vernichtet ihn“, ist so ein Statement in eigener Sache. Auf der bosco-Bühne wird die Vielschichtigkeit des Umgangs mit dem gesprochenen Wort durch Selbstbespiegelung der Schauspieler-Existenz ins Bild gesetzt – durch drei echte Spiegel. Die ständige Frage des Schauspieler-Ich, sie lautet wohl: Was machen all diese Worte mit mir? Wo bleibe ich selber dabei? Darf, kann man überhaupt noch Theater „spielen“, man hat schließlich auch noch Paul Celans „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland...“ im Ohr?
Stefan Hunsteins Solo ist eine großartige Grübelei über die Sinnhaftigkeit von Theater und Literatur: Ein leidenschaftliches Ja, unter permanenten Schmerzen.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.