Nach(t)kritik
Zu viel von allem
Veranstaltung: Theater an der Ruhr: "antigone. ein requiem" von Thomas Köck„Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar.“ Der Satz, den Ingeborg Bachmann sprach, stand wie ein Menetekel an der Projektionsfläche, über die im Laufe des Abends eine sehr große Zahl von Wahrheiten in Bildform über die Bühne flutete. Zumutbar und darum eben auch eine Zumutung, im wahrsten Sinn des Wortes.
Die Wahrheit ist, dass der Tod den Menschen bewusst ist und dass er ihre Parameter wie Wert oder Gesetz herausfordert, dass er die Menschen selber immer wieder herausfordert zu Abwehrhandlungen jedweder Form. Angesichts der ihn scheinbar unsichtbar machenden Allgegenwart des Todes hat der in Österreich geborene Dramatiker Thomas Köck den antiken Antigone-Mythos neu betrachtet und in Form eines Requiems einmal mehr dramatisiert. „antigone.ein requiem“, heißt sein Werk, mit dem das Mühlheimer Theater an der Ruhr im Gautinger bosco gastierte.
Die Geschichte der Antigone ist die einer Widersetzung. Antigone widersetzte sich dem Verbot des Königs, den Bruder zu bestatten, indem sie dessen Leichnam das Ritual eines Begräbnisses zukommen ließ. Sie stellte ihre persönlichen Rechtsvorstellungen über das Gesetz und bezahlte dafür mit dem Leben. Wer darf entscheiden, welche Toten begraben werden und welche nicht?
Das Requiem beginnt mit den vielen, abervielen Toten, die an Europas Stränden angespült werden. „Es sind unsere Toten“, wiederholt Antigone ein ums andere Mal. Die Toten, die aus den täglichen medialen Bilderfluten angeschwemmt werden, sind unsere Toten, doch sie berühren uns nicht mehr. Und so wählt das Requiem den Schauplatz einer TV-Show, in der alle Beteiligten mit starrem Kamerablick ihre Statements vortragen - einem Requiem gemäß teils auch in Gesangs- oder Sprechgesangsform. „Po To Si-TV“, heißt das Format, und von den im heutigen Bolivien liegenden Silberminen in Potosi als dem Ursprungsort des Kapitalismus über die Aufteilung der Welt in ausgebeutete und ausbeutende Regionen bis hin zu den Folgen von Globalisierung und Klimawandel verhandeln die Teilnehmer der Talkshow-Runde die Fragen, was ein Gesetz ist, was ein Staat und was ein Wert. Was heißt Sterben? Wer entscheidet über die Würde der Toten?
Das Theater an der Ruhr, mehrfach ausgezeichnet und schon häufiger in Gauting zu Gast, überzeugt einmal mehr mit einer sehr fein ziselierten, der musikalischen Struktur des Textes von Köck nachspürenden Ensembleleistung. Regisseurin Simone Thoma schafft gerade hier eine Dichte, der niemand im Publikum entkommt. Die Elemente aus der Show-Glitzerwelt kontrastieren dabei hart mit jenen, die dem antiken Theater entlehnt sind: mal Song-and-Dance, dann wieder Sprech-Chor im Staccato, mal Glamourmaske, dann scheinbar Kothurn. Das Ensemble aus Dagmar Geppert als Antigone, Gabriella Weber als Ismene, Fabio Menéndez als Kreon, Albert Bork als Bote, Maria Neumann als Haimon, Petra von der Beek als Eurydike, Matthias Flake am Keybord als Udo J. und Roberto Ciulli (der das Theater an der Ruhr gegründet hat und seit vierzig Jahren leitet) als Teiresias verhandelt die zentralen Fragen der Gegenwart mit all dem, was dieser Gegenwart auf der Bühne zur Verfügung steht. Und das ist neben der Theatergeschichte eben auch dessen zeitgemäße Form der medial aufbereiteten Bilder. So werden, während vorn auf Talkshow-Chairs über die Zumutbarkeit der Wahrheit geredet, geplaudert, deklamiert wird, auf der als Rückprospekt dienenden Projektionsfläche die Orte des Sterbens und des Todes gezeigt wie ein permanenter Bilderticker. Interessant ist die Beobachtung, dass, was täglich über die heimischen Bildschirme flackert, so ausgestellt auf der Bühne rasch zur Zumutung wird - wie die Wahrheit, von der Ingeborg Bachmann spricht.
Trotz großer Dichte, Eindringlichkeit, trotz Requiemformat und einleuchtender Bilderflut sei noch eine Beobachtung angemerkt: nachdem die Bilder aufgeschreckt und die klaren Sätze verstanden waren, blieb noch viel Aufführung über, so dass mancher im Publikum schon wieder in die Haltung des selektierenden Konsumenten zurückzufallen versucht war. Aber vielleicht muss auch dies zumutbar sein. „Am Ende einfach zu viel von allem“, hieß es am Anfang. Und genau das ist das Problem der Gegenwart, das noch immer nach Lösungen sucht.
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