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Nach(t)kritik

Do, 08.11.2018
20.00 Uhr

Zwischen den Schlachten

Veranstaltung: Hubert Mulzer: "Stationschef Fallmerayer" von Joseph Roth

Der große Marcel Reich-Ranicky hat, von der F.A.Z. befragt, welche Bücher man unbedingt gelesen haben sollte, geantwortet: „Ich empfehle Roths Roman Hiob und Die Geschichte von der 1002. Nacht und vor allem den Radetzkymarsch. Aber man sollte auch seine Erzählungen lesen, zumal April, Stationschef Fallmerayer und Die Legende vom heiligen Trinker.“

Gautings Literaturfreunde erhielten nun an diesem Donnerstagabend Gelegenheit, in die Welt des Stationschefs Adam Fallmerayer einzutauchen. Es ist eine scheinbar wohlbeordnete Welt, die aus den Fugen gerät, als sich kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs ein Eisenbahnunglück nahe Fallmerayers Station ereignet und dem schuldbewussten Beamten eine verletzte Frau ins Haus spült. Sie ist Russin, aus Kiew, und Fallmerayer ist nicht allein von ihrem Antlitz bezaubert, sondern vor allem auch von ihrem Geruch betört. Sie bleibt nur wenige Tage, ehe sie in ihr altes Leben zurückkehrt, doch um Fallmerayer ist es geschehen. Seine Einberufung ist für ihn der Ruf in ein neues Leben, der Krieg lässt ihn russisch lernen und treibt ihn nach Kiew in die Arme der von ihm nie Vergessenen. Doch eines Tages kehrt deren Mann aus dem Krieg zurück, als Invalide. „Hierauf reiste Fallmerayer ab; man hat nie mehr etwas von ihm gehört.“

Schauspieler Hubert Mulzer liest an diesem Abend Joseph Roths Erzählung. Er steht am rechten Bühnenrand vor einer gemütlichen Leseecke mit Ohrensessel, Tisch und Kerzenleuchter. In der Hand hält er das Buch, aus dem er mal liest, mal daraus aufblickt und dem soeben Vorgelesenen nachlauscht. Er liest mit eindringlicher, oft bewusst sehr leiser Stimme, die zum konzentrierten, sehr genauen Zuhören zwingt. So lässt er in den Köpfen der Zuhörer jene Bilder entstehen, die Joseph Roth zu zeichnen in der Lage ist: Nahaufnahmen des von seinen Gefühlen überwältigten, überraschten Stationschefs, von der in der Fremde des Unglücks so hilflosen und im eigenen Gutshaus so überlegenen Frau, weite Landschaftsbilder der von den Gleisen durchschnittenen Landschaft.

Die Bilder entstehen nicht zuletzt durch die beiden Musikerinnen, Marlis Neumann an der Harfe und Isabelle Soulas an der Querflöte, die mit Werken von Franz Lachner, Modest Mussorgski und Adam Katschaturian den Abend in Kapitel gliedern und  auf Joseph Roths gestaltete Sprache mit musikalischen Motiven antworten.

Und so wird, hundert Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, die Geschichte eines am Rand der Schlachtfelder in den Gräben der Liebe Vermissten durch die drei Künstler sehr gegenwärtig, sehr nah herangezoomt. Der Blick lohnt unbedingt!

Sabine Zaplin, 08.11.2018


Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.