Technik ist nicht alles. Doch was für Möglichkeiten eröffnen sich, wenn man über eine so grandiose Anschlagstechnik verfügt, wie Anna Vinnitskaya?! Und sie zog hier nun wirklich alle Register, die man sich an einem guten Flügel nur vorstellen kann. Das Repertoire rechtfertigte zudem dieses weite Spektrum, das fast schon von Prokofjew alleine in Anspruch genommen wurde. Aber mit Chopins 24 Préludes op. 28, der Sammlung von Ausdrucksaphorismen durch alle Tonarten, rief Vinnitskaya zusätzlich eine tiefbeseelte Feinsinnigkeit und Zartheit auf den Plan, ferner ein filigranes Perlen, wie sie bei Prokofjew wohl zu romantisch angemutet hätten.
Was die Technik ermöglichte, war sehr vielfältig. Vor allem eine reiche Differenzierung quer durch üppige Klanglandschaften fast ohne Pedaleinsatz, was sich in einer unvergleichlichen Klarheit und Transparenz äußerte. Alles, was Vinnitskaya an dynamischen und agogischen Nuancen zauberte, war zu 99 Prozent der Beherrschung der Fingerarbeit zu verdanken.
Auf alle Fälle gab die Technik Vinnitskaya auch eine unbändige Kraft, mit der sie die Bedrohlichkeit der ersten der drei Kriegssonaten des Komponisten schon sehr eindringlich einzuhämmern vermochte. Durchaus, man kann Prokofjew auch romantischer spielen, ja bisweilen sogar impressionistisch, zieht man die reich blühende Harmonik in Betracht. Doch die Sonaten vier und sechs aus seiner Feder sind eindeutig Werke des 20. Jahrhunderts, keine Rückschau auf Vergangenes, auch wenn der Komponist dafür durchaus auch traditionelle Kompositionstechniken heranzog.
Die große Stärke der Interpretationen Vinnitskayas war gerade die Vermittlung dieser einmaligen Ambivalenz zwischen traditioneller Tonalität eines kultivierten Satzes und der entfesselten Furiosität von bisweilen brutaler Härte im Sinne Neuer Musik. Schon die frühere Prokofjew-Sonate lebte von den gnadenlosen Wendungen der Charakteristika, vom sperrigen Klotzen zum poetisch-elegischen Sinnieren, vom vergnügten Behämmern zum düsteren Grollen in schwergewichtigen Bässen. Welten taten sich da auf, fast zu groß, für den nur gewaltigen Prokofjew.
Aber man ahnte auch schon, welch eine berührende Gefühlswelt in der Russin steckt. Die sollte durch die Préludes deutlich zu Wort kommen. Und auch hier tat sie das ohne Hemmungen und ohne Zurückhaltung. Satzbezeichnungen wie Agitato, Presto con fuoco bis schließlich im geradezu explosiven Allegro appassionato im d-Moll-Abschluss gaben ihr die Möglichkeit, auch beim melancholisch-elegischen Chopin für Pyrotechnik zu sorgen, ohne den empfindsamen Lyriker zu grämen. Die Feuerwerke, die Vinnitskaya zündete, waren niemals Selbstzweck, schon gar nicht Show-Einlagen. Den begeisterten Schlussovationen des Publikums nach zweifelte hier niemand an der Echtheit der emotionalen Ausprägungen. Erklang der Trauermarsch des c-Moll-Prélude, so breitete sich eine herzzerreißende Totenklage aus. Tänzelte die Mazurka im A-Dur-Prélude, so spürte man den Luftzug der leichtfüßig drehenden Tanzpaare, die Mädchen mit duftenden Blumenkränzen im Haar. Und welch eine Schwermut ergoss sich aus dem e-Moll-Prélude, das so sekundjauchzend sang.
Hatte Vinnitskaya bei Prokofjew stets viel Zeit, den jeweiligen Spannungsbogen zu ziehen, so gaben ihr die Chopin-Préludes teils nur wenige Sekunden, ihre Bergmassive aufzutürmen. Doch sie ließ sich nicht hetzen, bereitete jede Eruption sorgsam vor, zögerte sie bis zur letzten Millisekunde heraus. Wie etwa im Regentropfen-Prélude Des-Dur mit seinen triumphalen Fanfaren im Zentrum.Dass sie auch die zartesten und filigranen Register beherrscht, bewies Vinnitskaya in den Zugaben: Schostakowitschs zierliches Walzer-Scherzo aus der Suite „Tänze der Puppen“ sowie ein empfindsam ausgesungenes „Von fremden Ländern und Menschen“ aus Schumanns Kinderszenen op. 15.