Leni schläft erst mal. Für die Hunde-Dame der Schauspielerin Annette Paulmann ist Homers „Odyssee“ offenkundig etwas Entspannendes: Die in 24 „Gesängen“ erzählten Abenteuer des Königs Odysseus und seiner Gefährten, einer 20 Jahre währenden Irrfahrt auf dem Heimweg vom Trojanischen Krieg, zählt zu den bedeutendsten und „einflussreichsten Dichtungen der abendländischen Literatur“, wie das Internet-Lexikon Wikipedia zusammenfasst. Für Leni aber, die sich auf dem Lese-Podest des bosco neben dem Tisch der Vortragenden räkelt, scheinen die hexametrischen Verse und ihre melodiöse Sprache purer Balsam zu sein: Die Götter erbarmten sich alle / nur nicht Poseidon...
Paulmann, Ensemble-MItglied der Münchner Kammerspiele und von der Zeitschrift „Theater heute“ zur Bühnenschauspielerin des Jahres 2010 gekürt, ließ mit klarer Stimme, im fast immer gleichen Duktus des sechshebigen Jambus – ab und zu ein kleiner Schluck aus dem Wasserglas, sonst herrscht der reine Wohlklang Homer´scher Dicht-kunst: Der mir zu Lieb / in vielen Kämpfen / sich mühte... Die Erdung dieser in so hohem Ton dahin segelnden Geschichte des Odysseus übernimmt Gerd Holzheimer, der auf das Grundthema bei Homer hinweist: „Was kann, was darf der Mensch – und was steht außerhalb seiner Macht und bleibt den Göttern vorbehalten?“ Homer sei ein Dichter mit durchaus "moderner" Erzältechnik gewesen, habe z.B. viele Perspektivenwechsel eingebaut. Vorsorglich flicht Holzheimer noch ein, der geneigte Zuhörer möge sich nur ja nicht alle Namen der „Odyssee“ merken wollen – derlei „Leistungsgedanke“ hatte freilich auch schon am Gymnasium den Genuss getrübt. An diesem Abend kontrastiert seine eher lockere Kommentierung auf wohltuende Weise mit der Konzentration verlangenden Essenz des Vorgetragenen: Und jetzt gab ihm Antwort / die waltende Mutter...
Beim Zuhörer stellt sich im Laufe der auszugsweise dargebotenen „Gesänge“ Homers eine Form von rhythmischem Mitschwingen ein, das Versmaß erleichtert die Rezeption des Textes, wobei es an der einen oder anderen Stelle gegenüber dem Original vom Satzbau her leicht „zurechtgebastelt“ war: Heimlich und nicht offen / lass landen dein Schiff / im Land deiner Väter! So geht das ohne Verlust an Dynamik fast zwei Stunden, und Annette Paulmann fragt ihr höchst aufmerksames, geradezu gefesseltes Auditorium: „Können Sie noch?“
Die Lesung war Bestandteil einer bosco-Trilogie mit dem Thema „Flucht“ bzw. „Flüchtling“. Es streife auch die Irrungen auf der Suche nach dem eigenen Ich, sagt Holzheimer und streut in einer Pause zwischen den Gesängen ein, dass es in der „Odyssee“ eine „auffällige Häufung von Psychopharmaka“ gebe. In der Tat werden dort Immer wieder Tränke gebraut und konsumiert, die dem Helden das Überleben erleichtern und ihn sogar vor dem zürnenden Zeus, dem für einen Gott ziemlich launischen „Erderschütterer“ retten. Holzheimer: „Manchmal ist beim Homer der eine oder andre a bissl im Öl, wie der Wiener sagt“, also angesoffen. Doch auch Odysseus findet irgendwann ernüchtert heim und säubert sein Haus rasend vor Wut von buhlenden Freiern: Es bellte sein Herz ihm vor Ingrimm...Laut Homer´schem Original hatte übrigens der treue Hund seinen als Bettler verkleideten Herrn in Ithaka als erstes wiedererkannt. Leni kann an diesem Abend also stolz sein auf ihren antiken Artgenossen – sie erhebt sich gemeinsam mit Annette Paul zum verdienten Applaus. Endlich heim!