"Vielen war ziemlich schnell klar, dass sie weitermachen wollten", sagt die Choreographin Bettina Fritsche am Premierenabend des zweiten Tanztheaterprojekts. Was für ein Segen, dass dieser Schwung vom Sommer 2013 bis heute anhält: Fritsches sensationelle Arbeit mit einer reinen Laientanzgruppe von durchweg über 60-Jährigen erlebte nun also eine Fortsetzung - nach "Bewegtes Leben 2068" (die Überschrift verdankte sich damals der Summe an Lebensjahren der Akteure und Akricen, die Anregung kam einst von Hans-Georg Krause) wurde zwei Jahre später eine "Gratwanderung" auf die Bühne gebracht, die wieder ganz eigene Akzente setzte.
Das "Ensemble" besteht mittlerweile zwar fast ausschließlich aus Frauen, doch der einzige Herr in ihren Reihen kommt nicht zu kurz - in einer romantischen Tango-Szene mit anschließendem Happy end darf der Mann ein Mann sein, elegant und im Kostüm eines Musical-Bräutigams. Womit wir bei der wirklich exquisiten Musikauswahl sind: Jene "Szenen, die sich für uns während der Proben als wichtig und stimmig herausgestellt hatten" (Fritsche), bekamen dank dieser Einspielungen gewisse emotionale Leitmotive, rhythmisierten diese, ohne allzu einengend zu sein. In Soli, Paar-, Duo-, Gruppen-Szenen und deren fließenden Übergängen funktionierte das ganz großartig, allerdings im Gesamtbild und den Aktionen konkreter als noch bei "Bewegtes Leben 2068" - eine einzelne Frau in einer Art Aufbruchssituation, erst noch zweifelnd, wie festzementiert, dann sich allmählich lösend, zunehmend Tritt fassend - und dazu: "These boots are made for walking" von Nancy Sinatra. Was könnte passender sein? Es sei wieder eine Collage geworden, sagt Fritsche. Sie hat Musikzitate von der Klassik über "Ein Amerikaner in Paris" bis hin zu Neil Diamond mit monologischen Text-Splittern montiert und dazwischen den Bewe-gungs- und Entfaltungsspielraum der Tanzgruppe angeordnet. Eine wohldosierte Portion Assoziatives wurde auch beigegeben - Worte über "Ordnung", Sätze wie: "Du musst dein Leben ändern!" oder Zitate wie "Ich setze meinen Fuß in die Luft - und sie trägt." Der optisch-choreographische Zauber, der Gleichschwung, der sich hier ausbreitet, und ebenso der Alleingang, beides wird zugleich kommentiert. Im Ergebnis ist erneut eine einzige Wundertüte zu bestaunen: Das Putzfrauengeschwader mit den blauen Eimern liefert wie nebenbei eine Hommage an Fred Astaire und dessen legendäre Nummern mit Besen oder Kleiderständern, während man bei der urbanen Gruppen-Szene sofort an Gene Kelly denkt. Doch auch das Tanztheater einer Pina Bausch lässt wieder grüßen - wenn etwa über imaginäre Abgründe hinweg auf imaginären Seilen balanciert werden muss, wenn ein einziges Ringen und Wogen von Körpern sich von links nach rechts über die Bühne bewegt. Und auch Farben spielen diesmal eine bedeutende Rolle: Das schillernd grüne Kleid der sich entblätternden Frau zu Beginn, das kontrastierende Schwarz/Weiß bei der Thematisierung von Einsamkeit zu Georges Moustakis "Ma solitude", das Gruppenschwarz bei der Körperlandschaft, das Weiß der Erlösung zu Neil Diamonds getragener Stimme und dem "Lost"-Song des finalen Tableaus.
Hier, mit dieser "Gratwanderung", findet erneut ein Wunder statt: Das einer Ganzheit, das sich aus lauter Individuen, ihrem Elan und ihrem Mut speist. "Sich einbringen, ohne gleich in vorderster Front zu stehen", hat Bettina Fritsche dieses Konzept aus Sicht der Laien-Tänzer/innen umschrieben. Inzwischen ist man schon wieder ein paar (Tanz-)schritte weiter, wie zu besichtigen war. Sie haben sich wieder getraut, alle.