Leselust pur: Überbordend von anregender Stofffülle ist das neue Format „boox.“ Live präsentierten die beiden Gautinger Schriftstellerinnen Tanja Weber und Sabine Zaplin nach dem lähmenden Pandemie-Lockdown ihrem Publikum im bosco eine Bücherliste, die es in sich hat: Im Literatur-Gespräch „Ein Gast, zwei Frauen, drei Bücher“ debattierten die Moderatorinnen über Juli Zehs Roman „Über Menschen“ so kontrovers, dass es die wahre Freude war – mit Appetizer zum Lesen.
Endlich wieder live mit Applaus: Zum Auftakt des neuen Bücherfest-Formats „boox“ im nach Corona-Maßstäben fast ausgebuchten bosco beglückt der Münchner Musiker Titus Waldenfels die BesucherInnen mit Bavarian Folk auf der Gitarre.
Auf ihrer Empfehlungsliste für die nach dem langen Lockdown sehnlichst herbeigesehnten Sommerferien hatten die beiden lesefreudigen Moderatorinnen literarische Highlights im Gepäck.
Den aktuellen „Corona“- Roman „Über Menschen“ von Juli Zeh feierte Sabine Zaplin als „exzellentes“ Werk. Dora, die Protagonistin, zieht in diesem Roman im ersten Lockdown vom pulsierenden Berlin ins brandenburgische, ländliche Nirgendwo. Dora entflieht ihrem Freund, dem Klimaaktivisten Robert – und begegnet im Dorf Bracken einem hilfsbereiten AfD-Anhänger, der mit seinen Kumpanen das national sozialistische Horst-Wessel-Lied singt, erzählt Sabine Zaplin.
Doch ihre Kollegin Tanja Weber hat den von Zaplin als „humorvoll“ gelobten Roman „Über Menschen“ nach den ersten 50 Seiten wieder weggelegt. Anders als in Juli Zehs vor einem Jahrzehnt verfasstem Werk „Unter Leuten“ stelle die Autorin ihre Figuren in „Über Menschen“ lediglich aus, bemängelt Tanja Weber.
Im Gegensatz dazu erzähle Judith Hermann in ihrem Roman „Daheim“ von Figuren, die die Leserin „zu einer Haltung“ nötigten. Denn die Autorin des gefeierten Bestsellers „Sommerhaus später“ habe ihren Text in „Daheim“ grandios auf 80 Seiten „heruntergedampft“.
Da sitze jeder Satz beschreibt Tanja Weber die von Judith Hermann verfasste Geschichte jenes Augenblicks, „in dem das Leben sich teilt, eine alte Welt verlorengeht und eine neue entsteht.“
Wie Juli Zehs „Über Menschen“ beginnt auch Björn Kerns „Solikante Solo“ im Multikulti-Berlin. Ein Eltern-Paar mit Kleinkind muss seine teure Großstadt-Wohnung per Airbnb vermieten – und landet in einem verfallenden Nest im brandenburgischen Oder- Durchbruch, empfiehlt Schriftstellerin Sabine Zaplin das mitreißende Portrait „eines Paares auf der Suche nach Heimat in einem tief gespaltenen Land.“
Nach einem melodiösen Gitarren-Solo von Titus Waldenfels betritt Marc Schürhoff als erster Gast die bosco-Bühne: Der Gautinger Buchhändler, bekennender Anhänger des Sehnsuchtslandes „bella Italia“, legt dem Publikum zwei Werke ans Herz. Ganz oben auf der Empfehlungsliste des italophilen Gautingers steht „Italien. Portrait eines fremden Landes“ des langjährigen Italien-Korrespondenten und Germanisten Thomas Steinfeld. „Meine italienische Reise“ im Original-Cinque-Cento mit dem Deutsch-Italiener Marco Maurer „von Sizilien bis in den hohen Norden“ empfiehlt Schürhoff als weitere Reise-Lektüre. Aber auch den nach Asien entführenden Roman „Dschungel“ von Marek Friedemann. Denn gerade im Lockdown war die Sehnsucht der Gautinger/innen groß, sich zumindest auf geistige Reisen zu begeben. Der Inhaber der renommierten Gautinger Buchhandlung Kirchheim habe auch keine Mühen gescheut - und seine Gautinger Kundschaft per Fahrrad bergauf strampelnd ständig mit Lektüre versorgt, verrät Schriftstellerin Tanja Weber.
Doch der Buchhändler war nicht der Einzige, der örtliche Vielleser*innen mit geistigen Reisen verwöhnte: Als zweiter Gast betritt Ulrike Schwarzkopf, die stellvertretende Leiterin der Gemeindebibliothek die bosco-Bühne. Mit ihren Kolleginnen hat die Bibliothekarin „fast 4 000 aktive Leserinnen und Leser im Lockdown regelmäßig mit Medien versorgt. Auch einen ebook-Reader „zum Ausleihen“ und Spiele hatte Ulrike Schwarzkopf dabei.
Auf ein launiges Publikums-Quiz zu „Literatur in Gauting“, wie den bis heute aktuellen Erzählband „Schwimmbad-Sommer“ von Fridolin Schley folgt zum Finale der fesselnde boox-Block „über den deutschen Tellerrand hinaus.“
Ein „Must-Have“ für historisch Interessierte ist laut Tanja Weber „Das Prachtboot. Wie Deutsche die Kunstschätze der Südsee raubten.“ Das packende, hervorragend recherchierte Sachbuch des in Gräfelfing aufgewachsenen Historikers Götz Aly dokumentiere die Gewalt, Zerstörungswut und Gier der deutschen Kolonial-Zeit.
Götz Aly beschreibt, wie deutsche Händler, Abenteurer und Ethnologen auf der kleinen Insel Luf in der Südsee auf Raubzug gingen. Beim damaligen Massaker haben „nur 50 von fast 1 000 Inselbewohnern überlebt“, erzählt Tanja Weber. 1902 rissen schließlich Hamburger Kaufleute „das letzte, von den Überlebenden kunstvoll geschaffene hochseetüchtige Auslegerboot an sich.“ Das weltweit einmalige Prachtstück „ist für das Entrée des neuen Berliner Humboldt Forums vorgesehen“ – vorwiegend zum Bestaunen, beschreibt Götz Aly den Skandal deutscher Raubkunst der Kolonialzeit.