Ein kleiner Junge in altmodischer Kleidung, auf dem Kopf eine Baskenmütze und im Gesicht bezaubernde Sommersprossen, gibt im Treppenhaus Autogramme. Fast meint man, dass der Duft von frischgebackenem Baguette in der Luft liegt. Das ist wohl eine Sinnestäuschung, ausgelöst von den Bildern, die an der Wand hängen. Eines aber darf man wohl sagen: Gauting ist an diesem Sonntagnachmittag – und vielleicht auch noch bis zum Ende der Ausstellung von Catherina Hess – ein Vorort von Paris.
Jeder Fotograf sollte eine ganze Seite mit Fotos von München füllen, so lautete der Auftrag der SZ-Redaktion im Juli 2016 – eine typische Idee fürs Sommerloch. Catherina Hess, schon auf dem Sprung in den Urlaub, war zunächst gar nicht begeistert von dieser Idee. Vielleicht war sie in Gedanken schon auf dem Weg nach Frankreich, ihrer zweiten Heimat. Jedenfalls beschloss sie, München dort zu fotografieren, wo es aussieht wie Paris. Oder besser gesagt: So zu fotografieren, dass es aussieht wie Paris. Paris, so wie es im kollektiven Gedächtnis als Sehnsuchtsort gespeichert ist. Paris, wie es auf den Bildern von Henri Cartier Bresson zu sehen ist oder auf jenem berühmten Bild von Willy Ronis, das einen kleinen Jungen mit einem Baguette unter dem Arm zeigt, der vor Lebensglück platzend über seinen Schatten springt. Ein Paris der nostalgischen Schwarzweißbilder, könnte man sagen.
Der kleine Junge war schnell gefunden, sein Kostüm aus Knickerbockers und Baskenmütze ebenso. Ein halbes Jahr später bei der Vernissage in Gauting sollte er dann erzählen: „Bei dem Bild mit dem Schatten, da hätte ich die Mama beinahe mit dem Baguette geprügelt.“ Catherina Hess zog für ihre wunderbar inszenierte Bildserie vom französischen München mit ihrem achtjährigen Sohn Leon durch die Stadt. Sie fotografierte ihn im „Café Marais“ im Westend und vor der „Boulangerie Dompierre“ in Schwabing. Mal tunkt er ein Croissant in die Tasse, mal blickt er durchs Schaufenster in den Laden einer Hutmacherin, mal bestaunt er Abendkleider in einer Boutique. Mal mischt er sich unter die Boule-Spieler im Hofgarten und mal läuft er mit einem Baguette unter dem Arm am Fuß der Treppe an der Luitpoldbrücke entlang – immer und immer wieder. Als seine Mutter endlich mit dem „Springschatten“ zufrieden war, da war das Baguette schon in der Mitte durchgebrochen und mit einem Bleistift geflickt, wie Leon im Gespräch mit Hans-Georg Krause verrät.
Vielleicht wird der Geschichtenerzähler Leon später einmal in die Fußstapfen seiner berühmten Großeltern treten. Catherina Hess ist die Tochter der beiden Journalisten Karin Friedrich und Ernst Hess. Sie wählte erst die Fotografie und später den Bildjournalismus als Beruf. Sie wuchs in Gauting auf und lebt mittlerweile wieder dort. Eine Geschichtenerzählerin aber ist auch sie: „Ein Bild muss im Betrachter etwas bewirken, und wenn es nur ein gutes Gefühl ist.“ Meistens ist es jedoch weit mehr, was sie mit ihren Bildern bewirkt. Ihre zahlreichen Dokumentationen zu sozialen Themen entstanden unter anderem im Auftrag des Münchner Stadtarchiv, in Gauting stellte sie bereits 1995 die Bildserie „Fremde Heimat“ aus.
Sich Zeit nehmen, sich auf ein Thema einlassen und mit Bildern Emotionen zu transportieren, das komme bei der Arbeit für die Zeitung oftmals zu kurz, erzählt sie bei der Vernissage. Mit den stimmungsvollen Schwarzweißaufnahmen vom französischen München, die wie aus der Zeit gefallen wirken, jedenfalls ist es ihr gelungen. Es sind Bilder, in denen der Mariahilfplatz zum Quartier der kleinen Leute im Paris von anno dazumal wird, die Isar aussieht wie die Seine und die Maximilianskirche im abendlichen Zwielicht wie die Kathedrale von Notre Dame. Und ja, vielleicht verströmen diese Bilder ja tatsächlich auch den Duft von frischgebackenem Baguette…