„Haben Sie noch Zeit?“ fragt der Mann, der seine Geschichte erzählt, irgendwann - und ob er denn sein Gegenüber nicht langweilen würde. Das Gegenüber ist das Publikum, und es langweilt sich keinesfalls, im Gegenteil. Es ist nur viel zu gebannt, zu mitgenommen, um an dieser Stelle lautstark zu verneinen. Genau in diesem Moment ist die Essenz der Poetik von Anna Seghers spürbar: dass im Erzählen - und nur im Erzählen - Erlebtes abgeschlossen und zur Geschichte werden kann: Erzählen als die unbedingte Notwendigkeit zum Weiterlebenkönnen. Regisseur Alexander Riemenschneider hat diese Poetik verinnerlicht und seiner Bühnenfassung des Romans „Transit“ von Anna Seghers zugrundegelegt. Thorsten Hierse ist der Mann, der seine Geschichte erzählt, einen ganzen Abend lang, und er hat nichts weiter als diese Geschichte, aus der heraus sich seine gesamte Existenz definiert.
Ein Stuhl, eine Flasche Rosé und ein Glas. Es könnte ein Café in Marseille sein, es könnte ein Wartesaal sein oder einfach jeder Raum auf dieser Welt, den ein Stuhl und ein Glas mit Rosé definieren. Symbole des Wartens, des flüchtigen Moments. Genau diesen, den flüchtigen Moment, umkreist Thorsten Hierse in seinem Erzählen. Er erzählt im Sitzen, im Fletzen, Flakken, er erzählt, indem er den Stuhl umkreist, ihn einkreist, ihm auflauert, auf ihn einredet, einflüstert, brüllt. So entsteht, aus der Annäherung an den Augenblick heraus, die Geschichte einer Flucht, die im endlosen Warten verharrt und die Geschichte eines Flüchtlings, der nirgends ankommt.
Dieser Flüchtling, der durch Zufall in die Identität eines Mannes namens Seidler fällt und dem das Schicksal die zum Visum nach Mexiko berechtigenden Papiere eines anderen Mannes namens Weidel in die Hände spielt, möchte nichts weiter als einfach irgendwo ankommen und dort sein. Jener Weidel aber, der aus Furcht vor seinen Verfolgern seinem Leben ein Ende setzte, war verheiratet und seine Frau wartet auf ihn. Wartet vielleicht vielmehr auf die Chance, mit Hilfe des Visums anderswo ein neues Leben beginnen zu können. Auf diese Wartende trifft nun der Flüchtling. Der Erzähler. Und sein Wunsch nach Ankommen findet im Fortwollen der Frau eine Gegenbewegung.
Während Hierses Seidler hundert Minuten lang in höchster Intensität mit dieser Dynamik ringt, ist Wiebke Mollenhauer in Gestalt der Frau die Verkörperung eben jenes flüchtigen Moments, jenes Zustands, „den man auf Konsulaten Transit nennt und in der gewöhnlichen Sprache Gegenwart“. Sie durchwandert Hierses Monolog, taucht mal im Hintergrund hinter Gaze auf, flicht sich dann wieder in die Erzählung ein, nimmt Platz auf dem Stuhl, steuert Erinnerungen an Begegnungen mit anderen Flüchtenden bei. Ein Geist, eine Erfindung? In jedem Fall ein Kontrapunkt des Flüchtigen, nicht zu Haltenden für den nach Halt Suchenden.
Ein drittes Element in diesem Spiel um die erzählte Erinnerung ist die Live-Musik, die Tobias Vethake aus Klangelementen zwischen Koffern, Gitarre und Mikro schafft. Hier erfährt das Erlebte eine akustische Dimension, wird Erinnertes zu Geräuschen, Klängen, Musik. Alle drei Akteure auf der Bühne - und herausragend in seiner unglaublichen Präsenz Thorsten Hierse - halten die erinnerte Geschichte, diesen festgehaltenen Fluchtmoment, so unglaublich magisch in der Schwebe, dass es bis zum Schluss auch möglich und vorstellbar bleibt, dass die Geschichte allein im Kopf des Erzählers existiert. Eines Erzählers, der irgendwo auf der Flucht hängengeblieben ist in einem Café am Ende der Welt, allein mit dem Glas Rosé und seinem bittersüßen Wunsch nach Ankunft.