Warum habe ich am Ende der Vorstellung von „Gott“ die Tür mit der Aufschrift „Ja“ gewählt? Ich habe damit einem Suizid zugestimmt. Die Gründe dafür liefert die Inszenierung von Miraz Bezar, der mit dem Ensemble, bestehend aus Ernst Wilhelm Lenik, Klaus Mikoleit, Ksrin Boyd, Christian Meyer, Wolfgang Seidenberg, Martin Molitor, Pia Hänggi und Susanne Theil das Theaterstück des Schriftstellers und Juristen Ferdinand von Schirach auf die Bühne des bosco gestellt hat.
Darin geht es um nichts Geringeres als die Frage, wem das eigene Leben gehört: dem Menschen selber, seinen Angehörigen, dem Staat, der Kirche oder Gott? Ferdinand von Schirach hat das Verfassungsrechtsurteil vom Februar 2020 zum Anlass genommen, in seinem Theaterstück eine fiktive Sitzung des Ethikrats darüber debattieren zu lassen, wie die Aufhebung des Verbots der Suizid-Beihilfe zu werten sei. Ebenso fiktiv ist der Hintergrund für diese Sitzung: der 78-jährige Witwer Richard Gärtner möchte von seiner Hausärztin das Mittel zum Suizid erhalten. Er leidet nicht an einer Krankheit, ist im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte und kann über beides ärztliche Gutachten vorliegen. Woran er tatsächlich leidet, ist das Leben, zu dem er seit dem qualvollen Krebstod seiner Frau verdammt ist. Er sieht keinen Sinn darin, auf einen zu irgendeinem Zeitpunkt auf ihn zukommenden natürlichen Tod zu warten, zumal er sich seit dem Erlebnis mit dem Sterbeprozess seiner Frau nicht sicher sein kann, dass dieser natürliche Tod schmerzfrei und ohne unerträgliche Qualen stattfinden wird. „Tu das Richtige“, hat seine Frau vor ihrem Tod zu ihm gesagt. Für Richard Gärtner ist es das Richtige, die Frage nach dem selbstbestimmten Tod der Gesellschaft zu stellen. Gemeinsam mit seinem Anwalt tritt er darum vor den Ethikrat.
Dessen Vorsitzende hat neben der Ärztin Gärtners drei Expert:innen eingeladen: sie vertreten die Bereiche Recht, Ethik und Religion. Während sie ihre Argumente ausführen, wird hinter ihnen auf der Bühnenrückwand - bestehend aus einem großen Storage-Regal voller Umzugskartons - nacheinander wie Titel die Worte „RECHT“, „EID“ und „GOTT“ eingeblendet werden. Während die juristische Seite eindeutig scheint, tun sich sowohl die medizinische als auch die theologische Seite schwerer mit dem Urteil und seinen Folgen. Der Vorsitzende der Ärztekammer zitiert den hippokratischen Eid und betont, als Arzt dem Leben und dessen Erhalt verpflichtet zu sein. Der Bischof verweist auf die Kirchenväter wie Augustinus und auf Thomas von Aquin, die den Selbstmord verurteilen. Immer wieder schaltet sich Gärtners Anwalt ein, immer wieder auch der alte Mann selber, mit der Frage, warum das Leben selbstbestimmt sein dürfe, der Tod aber nicht. „Gibt es eine Verpflichtung dazu, leben zu müssen?“ fragt der Anwalt.
Trotz einer insgesamt sehr sachlichen Darstellung setzt diese Inszenierung doch ein paar kleine, aber maßgebliche Akzente, die einer Objektivität zuwiderlaufen: so wirken vor allem der Bischof, aber in Teilen auch der Vorsitzende der Ärztekammer hier weniger argumentierend als insistierend, der Bischof zeigt zuweilen Züge einer leicht parodierenden Darstellung, die nicht wirklich zum Ernstnehmen einlädt. Und dann gibt es zu Beginn und gegen Ende zwei kurze Expempores, in denen sich Richard Gärtner anhand ausgewählter Requisiten wie einem Nachthemd traumgleich an seine verstorbene Frau erinnert; einmal wird sogar deren Gesicht als riesiges, sich bewegendes Schwarz-Weiß-Portrait im Hintergrund eingeblendet. Ein bisschen wirkt das so, als vertraue die Regie dem Text nicht hundertprozentig und müsse die Beweggründe Gärtners noch anders bebildern. Dabei ist das überhaupt nicht nötig, so dass diese Momente eher überflüssig wirken.
Nachdem alle Argumente ausgetauscht sind, legt die Vorsitzende eine Pause fest und bittet das Publikum, das mit zum Ethikrat gehört, den Saal zu verlassen, sich eine Meinung zu bilden, sich darüber auch miteinander auszutauschen und schließlich zurückzukommen: entweder durch die Tür mit der Aufschrift „Ja“ - Herr Gärtner soll von seiner Ärztin das Mittel zum Suizid bekommen - oder durch jene mit dem „Nein“ - Herr Gärtner soll das Mittel nicht bekommen.
Warum bin ich also durch die Tür mit dem „Ja“ gegangen? Weil zu Beginn des Abends die Ärztin von Richard Gärtner sehr deutlich gemacht hat, welche Möglichkeiten Menschen, die nicht mehr leben wollen, ohne ein Mittel wie Pentobarbital bleiben und welche fatalen Folgen ein immer mögliches Scheitern dieser brutalen Methoden nach sich ziehen. Eine deutliche Mehrheit des Gautinger Publikums hat ebenso entschieden.