In der 70er Jahre-Fernsehserie „Münchner Gschichtn“ gab es mal eine Folge mit dem Titel „Ois anders“ – nichts mehr war so wie vorher, und ob die Helden jemals wieder würden zurückfinden können zu den vertrauten Verhältnissen, war ungewiss: Die Dinge hatten sich schier unwiederbringlich verändert.
Ein Hauch von „Ois anders“ war nun auch beim Eröffnungskonzert der Bosco-Spielsaison 2020/2021 zu verspüren. „Corona“ hatte die maximal zulässige Zuhörer-Anzahl auf 120 begrenzt, entsprechend abstandsbetont war auch das Gestühl im Saal angeordnet. Die vier Musiker von „Gerd Baumann & Parade“ hatten zudem die „Order“ bekommen, ohne Pause durchzuspielen, zumal auch die „Bar rosso“ im Bosco bis auf Weiteres geschlossen bleiben muss – Kultur unter erschwerten Bedingungen, Kultur auf dem Trockenen.
Gerd Baumann und seine Mitstreiter Sam Hylton (Piano), Benjamin Schäfer (Bass) und Flurin Mück (Drums) ließen sich von den leicht „gedämpften“ Umständen jedoch nicht beirren – der normaler Weise viel beschäftigte Live-Musiker und Filmkomponist Baumann ließ gar durchblicken, dass ihn mit dem Lockdown im März und den damit einhergehenden, mehr oder weniger existentiellen Ungewissheiten noch weitere private Katastrophen heimgesucht hatten: Ehekrise, Auszug des Sohnes – was halt so passiert, wenn sich die Welt eintrübt und auf einmal „ois anders“ erscheint. Baumann jedenfalls kann auch in diesen Krisenzeiten vermutlich von den Früchten seiner großen Kreativität zehren: Zusammen mit Sebastian Horn startet sein Band-Projekt „Dreiviertelblut“ gerade so richtig durch und liefert zum Beispiel den Soundtrack für den aktuellen ARD-Sechsteiler „Oktoberfest 1900“. Sogar einen philosophischen Film-Essay mit dem spacigen Titel „Weltraumtouristen“ stellten Horn/Berger unlängst vor. Womit wir bei Marcus H. Rosenmüller wären, einem der Regisseure des Films: Gerd Baumann hat bereits 2006 für eines der bekanntesten Rosenmüller-Werke, „Wer früher stirbt ist länger tot“ (u.a. mit Hannelore Elsner und Jule Ronstedt) die Musik geschrieben. Später sollten weitere Soundtracks zu Rosenmüller-Filmen folgen wie etwa für „Sommer in Orange“ (mit Brigitte Hobmeier), die Trilogie „Beste Zeit . . . Beste Gegend“ usw. (mit Rosalie Thomass) oder das Torwart-Portrait „Trautmann“ – stets, zuweilen in Nacht-und-Nebel-Aktionen, wie er berichtet, ließ Baumann sich von den thematischen Vorgaben zu passenden musikalischen Texturen inspirieren, die das zahlenmäßig reduzierte Bosco-Publikum nun als Live-Version zu hören bekam.
Die insgesamt 15 Stücke dieses besonderen Abends (zwei davon als Zugaben) stammten freilich überwiegend aus „Wer früher stirbt . . .“ und verströmten allein deshalb eine gewisse Uniformität, doch das machte nichts, denn „Gerd Baumann & Parade“ durchmischten sie mit weiteren, allesamt eingängigen Kompositionen wie etwa „The Loss Of All Possession“ – Baumanns offenbar ziemlich persönliche Zwischenbilanz aus dem Lockdown-Frühjahr, als sämtliche vermeintlichen Gewissheiten sich für unbestimmte Zeit erst einmal verabschiedeten. Die Handschrift dieser Stücke ist unverkennbar: Traditionelle Gitarre-Bass-Drums-Basis, gefällig-treibender Sound mit einem Schuss düsterer Gebrochenheit à la Tom Waits, dazu – zumindest in Gauting – die Keyboard-Tupfer von Sam Hylton, den Baumann einst in der Cafeteria der Münchner Musikhochschule entdeckt hatte. „Je nach Stimmung singe ich meistens auf Englisch“, verrät der Chef, der die Sprache ziemlich gut beherrscht und sich auch um die Aussprache keine Sorgen machen müsste. Hingegen ist ihm das Deutsche beim Texten eher verdächtig, denn das Ganze „würde schnell nach Neuer Deutscher Welle klingen“.
Die „Parade“ bildete im Bosco jedenfalls eine gut funktionierende Einheit, zumal mindestens zwei der drei anderen Musiker (Drummer Florin Mück und Bassist Benny Schäfer, den man noch von „Max.bab“ kennt) auch bei „Dreiviertelblut“ mit am Start sind. Die leicht bewölkten Stimmungen sind die eigentliche Stärke von Baumanns Kompositionen: So hat man sofort wieder die Bilder aus „Beste Zeit“ vor Augen, als sich die beiden Freundinnen in der Disco schier unrettbar zerstritten haben und doch den nächtlichen, zehn Kilometer langen Heimweg gemeinsam laufen müssen: Ein Weg des Zueinanderfindens. Manchem Baumann-Stück merkt man bei der Live-Performance an, dass es für einen Film geschrieben wurde – der epische Spannungsbogen ist leicht verkürzt, weil eben die jeweilige Szene zu Ende ist. Die eine oder andere Musik, sie würde ohne Film vielleicht gar nicht auf eigenen Füßen stehen wollen. Baumann aber hat die Gabe der Selbstironie. Als Dozent weiß er natürlich, was er kann, er weiß als praktizierender Musiker aber auch, wie unendlich viele Bemühungen es braucht, um Erfolg zu haben, um sich selbst in der Musik wiederzufinden. Sein Schaffensdrang ist so groß, dass er einen Gedichtband mit dem Titel „Das Schaf des Pythagoras“ geschrieben hat. Und er bringt, als Zugabe mit seiner „Parade“, den „Water Jar Song“, wiederum mit der sanften Rauheit eines Tom Waits kredenzt – dies will uns sagen: Ohne bestimmte Personen in unserem Leben, ohne bestimmte Verlässlichkeiten und Gewissheiten, sind wir wie ein leerer Wasserkrug. Man könnte auch sagen: Die „Bar rosso“, sie fehlt.