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Veranstaltungsinfo

Mi, 16.01.2019
20.00 Uhr
Literatur

15,00 / 8,00

Regulär / Schüler

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Veranstalter: Theaterforum Gauting e.V.

Gerd Holzheimer "Auf geht´s: Zu neuen Ufern!" (3): Von Kraglfing nach Wahnmoching

Bohème in Schwabing
Sprecherin: CAROLINE EBNER
3. Von Kraglfing nach Wahnmoching: Bohème in Schwabing
Die große Debatte der Jahrhundertwende dreht sich um die Kontroverse zwischen der Avantgarde und einer sich als konservativ verstehenden Heimatkunst. Wie sehr die beiden aufeinander angewiesen sind und einander bedürfen, zeigt das Schwabing der Zeit, eine Art Experimentierstation für die Moderne, Grundlage für all diese Aufbrüche. Die Pole können mit zwei, freilich fiktiven, topographischen Begriffen beschrieben werden: mit „Kraglfing“, einem nicht wirklich existierenden Ort aus Ludwig Thomas Erzählungen, und dem schönsten Namen, der für Schwabing erfunden worden ist: „Wahnmoching“. „Wahnmoching“, so die Reventlow in ihrem Roman Herrn Dames Aufzeichnungen, „heißt wohl ein Stadtteil, aber das ist nur ein zufälliger Umstand. Wahnmoching ist eine geistige Bewegung, ein Niveau, eine Richtung, ein Protest, ein neuer Kult oder vielmehr der Versuch, aus uralten Kulturen wieder neue religiöse Möglichkeiten zu gewinnen...“ Sie selbst verkörpert darin eine „erotische Rebellion“.

Franziska zu Reventlow, die „wilde Gräfin“, wie sie bald genannt wurde, taucht 1893 in München auf. Im gleichen Jahr gründet Langen seinen Verlag, in dem 1896 der Simplicissimus erscheint. Ein Jahr zuvor sorgt Panizza mit seinem Liebeskonzil für einen ähnlichen Skandal wie Wedekinds Frühlings Erwachen im Jahre 1890, sein Autor wandert in die Nervenheilanstalt. 1896 kommt Georg Hirth mit der Jugend heraus, einer humoristisch-satirischen Wochenschrift für Kunst und Leben. 1897 stößt Thoma zum Simplicissimus, 1899 kommt Wedekind wegen Majestätsbeleidigung in Haft. In den Jahren zwischen 1899 und 1902 erscheint die Zeitschrift Die Insel. Die Elf Scharfrichter beginnen 1901 ihr Programm. 1903 eröffnet Kathi Kobus das Szenelokal „Simplicissimus“. Sechs Wochen Haft sitzt Ludwig Thoma 1905 ab, im gleichen Jahr kommt der Anarchist Gustav Gräser nach München. Zwischen 1911 und 1914 gibt Erich Mühsam Kain. Zeitschrift für Menschlichkeit heraus, aus seinen anrührenden Tagebüchern wird an diesem Abend gelesen und aus vielem anderen.
Die großen Themen der Zeit sind „Lebensreform“ (repräsentiert z. B. durch Diefenbach oder Gräser), „gewaltfreier Anarchismus“ (Mühsam), „sexuelle Rebellion“ (Panizza, Otto Gross, Reventlow), „Satire und politisches Aufbegehren“ (Wedekind, Thoma) und die „Lebenskunst“ mit ihren Publikationsorganen Jugend und Die Insel.

Konzeption & Moderation
GERD HOLZHEIMER
Sprecherin
CAROLINE EBNER
Nach(t)kritik
Die rote Bulldogge am oberen Treppenabsatz
Nach(t)kritik von Sabine Zaplin

Heutige Assoziationen zum Stichwort „Schwabing“ haben vermutlich mit Bodenpreisen zu tun, mit Luxussanierung und Edelboutiquen. Der eine oder die andere mag noch an Musikkneipen denken und daran, dass diese längst geschlossen sind. Dass von hier vor gerade mal drei Generationen kulturelle Aufbrüche ihren Anfang nahmen, wissen unter den heutigen Anwärtern auf Spekulationsobjekte vermutlich die wenigsten (ohne hier jemandem Unrecht tun zu wollen, darum „vermutlich“). Noch zur vorletzten Jahrhundertwende, jener vom 19. zum 20. Jahrhundert, lag Schwabing am Ende der Ludwigstraße als Vorort zwischen Wiesen, in den eine Prachtallee gesäumt von klassizistischen Bauten führte. Der Gemüsegarten vor der guten Stube, gewissermaßen. Damals veröffentlichte der noch ganz junge Ludwig Thoma seine erste Geschichte über ein fiktives Dorf namens „Kraglfing“. Es handelt sich dabei um einen sehr liebevollen Text, ebenso liebevoll gelesen von Caroline Ebner, die an diesem dritten Abend der literarischen Reihe „Auf geht’s: Zu neuen Ufern“ an der Seite von Gerd Holzheimer literarische Beispiele von politischen und kulturellen Aufbrüchen vorstellt.

Von Thoma`s Kraglfing zum wilden „Wahnmoching“ der legendären Gräfin Franziska zu Reventlow spannt Holzheimer diesmal den Bogen und versammelt unter demselben ein wildes Volk von Literaten und Revolutionären, von Satirikern und Anarchisten, die damals den immer noch nachklingenden Ruhm Schwabings begründeten. Neben dem streitbaren Thoma und der „erotischen Rebellin“, der Reventlow, waren das unter anderem Vertreter der Lebensreform-Bewegung, der Kämpfer gegen bürgerliche Moralvorstellungen Oskar Panizza und der Anarchist Erich Mühsam. Sie alle eint der Wille zum Aufbruch, die Suche nach einem ihnen und ihrer Zeit gemäßen sozialen Leben und eine sehr große Wachsamkeit gegenüber allen rückwärts gewandten Kräften. Hier konnte eine Satire-Zeitschrift wie der „Simplicissimus“ das Licht der Welt erblicken - und das Symbol dieser Schrift, die rote Bulldogge, begrüßte vor Beginn der Lesung das bosco-Publikum oben am Treppenabsatz. Holzheimer hatte die eindrucksvoll große Figur einst nach Abwicklung des Instituts für Bayerische Literatur vom Sperrmüll vor dem Institutsgebäude geholt, ihr bei sich daheim Asyl gewährt und sie am Nachmittag vor der heutigen Veranstaltung per Fahrradanhänger ins bosco transportiert. Beinahe hätte der Simpl-Hund diese Reise nicht überlebt: im Treppenhaus machte er sich selbständig und fiel die Stufen hinab. Dank Technikchef Markus Sternagel konnte das rote Monster dann doch gerettet werden, so dass es dem Abend beiwohnen durfte.

Dieses „Aufbruch“-Kapitel „Von Kraglfing nach Wahnmoching“ wurde zu einem Schwabing-Spaziergang der besonderen Art. Die (Wieder-)Begegnung mit den Kreativen aus der Zeit zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg war ein eindrücklicher Beweis dafür, wieviel fortschrittlicher, mutiger und vor allem zukunftsbegeisterter Satiriker, Schriftsteller und Kulturschaffende einst auf die Gesellschaft ihrer Zeit einzuwirken versuchten.