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Veranstaltungsinfo

Mi, 08.02.2023
20.00 Uhr
Literatur

15,00 / 8,00

Regulär / bis 25 Jahre

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Veranstalter: Theaterforum Gauting e.V.

Gerd Holzheimer: Da schau her (Teil 2)

Da schau her: Denkweisen, Horizonte, Utopien. Teil 2 der Literaturreihe mit Gerd Holzheimer.

„Da schau her“ ist in doppeltem Sinne gemeint. Wer es bairisch ausspricht, wird diesen Ausruf mit einer kleinen Melodie zum Ausdruck bringen, voller Verwunderung: „Do schaug hea!“ In dieser Verwunderung kann Erstaunen, auch eine gewisse Abschätzigkeit, ebenso freilich eine Bewunderung ausgedrückt werden. Wer „Da schau her!“ eher hochdeutsch ausspricht, möchte auf gut Neudeutsch ausdrücken: Die sind aber gut aufgestellt! Hätte man sich gar nicht gedacht, was da alles zusammenkommt, im bosco an Möglichkeiten: denkerische, spielerische, immer poetische, die zugleich voller Ernst sind – wenn es einem behagt, mit Lachen die Wahrheit zu sagen (in vollem Bewusstsein, dass es eine Wahrheit nicht gibt, gar nicht geben kann).

Teil 2: Vom genauen Hinschauen

Auf seiner Italienischen Reise entdeckt Goethe nicht nur das antike Erbe, vor allem Griechenlands. Er lernt auch, selbst genau hinzuschauen. In Venedig ist es ein Taschenkrebs, der ihm so zum Lehrmeister der Natur wird. Er beobachtet seinen kleinen Lebenskreis zwischen der Trockenheit des Sandes und den Wellen des Meeres. Wagt er sich zu weit hinaus aufs Wasser, wird er hinweggespült. Krabbelt er zu sehr ins Land hinein, vertrocknet er im Sand. Behält er aber das rechte Maß, bleibt er am Leben. Zugleich wahrt er damit auch seine Schönheit. „Wie angemessen zu seinem Zustande“, so nimmt ihn Goethe wahr – und entwirft damit gleichzeitig ein Programm klassischer Ästhetik aus der Anschauung der Natur.

Wir begleiten an diesem Abend auf einer virtuellen Reise auch andere deutsche Reisende in das Land, in dem die Zitronen blühen. Für Johann Gottfried Seume erschließt sich das Land nicht aus der komfortablen Kutsche, sondern er geht zu Fuß, in seinem berühmten Spaziergang nach Syracus: „Es ginge alles besser, wenn man mehr ginge.“ So entsteht in der Beschreibung von Land und Leuten ein „Soziogramm“ konkreter Wirklichkeit, das zum Gegenstück goethischer Sichtweise wird. Heinrich Heine belustigt sich über den Dichterfürsten in der Weise, dass die Natur es gut hat, einen Goethe zu haben, der sie beschreibt. „Die Natur wollte wissen, wie sie aussieht, und sie erschuf Goethe.“ Otto Julius Bierbaum ist der erste Automobilist, der als Schriftsteller über die Alpen setzt und auf seine Weise und auf seine Weise das Land entdeckt: Eine empfindsame Reise im Automobil. Über den sich aufplusternden Kreis um Stefan George, die in der Nachahmung Goethes wetteifern, lästert er: „Feierlich sein ist alles! Sei dumm wie ein Thunfisch, temperamentlos wie eine Qualle, stier besessen wie ein narkotisierter Frosch, aber sei feierlich, und du wirst plötzlich Leute um dich sehen, die vor Bewunderung nicht mehr mäh sagen können.“

Konzeption & Moderation
GERD HOLZHEIMER
Sprecher
MATTHIAS FRIEDRICH

Termine
23.11.2022 Teil 1: Vom Schatten der Erkenntnis
08.02.2023 Teil 2: Vom genauen Hinschauen
08.03.2023 Teil 3: Mit dem Herzen sehen

Nach(t)kritik
In die Welt hinaus gehen
Nach(t)kritik von Sabine Zaplin

Hand aufs Herz: wer aus dem Publikum ist zu Fuß ins bosco gekommen an diesem eiskalten Abend, der sich unter der Federführung von Literaturspaziergänger Gerd Holzheimer und dem ebenfalls viel reisenden Schauspieler Ernst Matthias Friedrich dem Gehen widmete, insbesondere dem Zu-Fuß-Gehen? Zugegeben: der anhand von zahlreichen Beispielen aus der Literaturgeschichte hergestellte Zusammenhang zwischen dem Gehen und dem Sehen war für Zu-Fuß-Hergekommene mangels Tageslicht und Wegrandüberraschungen vor Beginn der Veranstaltung gewiss nicht so ersichtlich, und wer zu Fuß hergefunden hatte, tat dies vermutlich eher aus Sorge vor Glatteis oder weil das Auto es schon so schön warm in der Garage hatte.

Ganz anders Johann Gottfried Seume, mit dem Holzheimer und Friedrich den zweiten Abend der literarischen Reihe „Da schau her!“ eröffneten. Der ging nämlich im Jahr 1802 aus Geldmangel und Italiensehnsucht von Grimma bei Leipzig zu Fuß bis nach Syrakus, Sizilien, und zwar, wie er am Ende seines Buchs „Spaziergang nach Syrakus“ betont, immer in denselben Stiefeln, die ihm auch jetzt, nach der Rückkehr, noch zu weiteren Unternehmungen dieser Art dienlich wären. „Das ist nicht so unbedingt das Goetheprogramm“, bemerkt Gerd Holzheimer.

Von Goethes „Italienischer Reise“ wird noch ebenso die Rede sein an diesem Abend wie von Heinrich Heines „Reisebildern“, von Joseph von Eichendorffs „Aus dem Leben eines Taugenichts“ ebenso wie von Robert Walsers „Der Gehülfe“. Das verbindende Element ist der Weg in Richtung jenes Sehnsuchtslandes, in dem neben Zitronen auch die Poesie, die Liebe und die reine Lust am Leben blühen. Dabei geht es immer wieder um den Blick der Dichter - an diesem Abend sind ausschließlich männliche Autoren vertreten - auf das, was am Wegesrand zu finden ist, was sich unterscheidet vom bisher gekannten, was den Blick auf sich zieht und somit einen Perspektivwechsel einfordert: der Reisende, ob zu Fuß oder im bequemen Wagen, muss den Blick immer wieder fokussieren auf die kleinen, oft eher am Boden. also unten zu entdeckenden Dinge. „Weltaneignung durch das Auge“, nennt Holzheimer diesen Prozess.

Dem Publikum leuchtet dies unmittelbar ein. Vermutlich besitzen hier viele eigene Erfahrungen in diesem Sinne, zumindest zeugt eine gewisse Textkenntnis von Wanderliedern davon. Als Matthias Friedrich in seiner Lesung aus dem „Taugenichts“ das darin zu findende Eichendorffsche Wanderlied „Wem Gott will rechte Gunst erweisen“, anstimmt, fällt etwa die Hälfte der Anwesenden in den Gesang mit ein - jedenfalls in der ersten Strophe. Im Folgenden erzählt der als deutscher Wanderdichter geltende Joseph von Eichendorff dann davon, wie sein „Taugenichts“ schon nach wenigen Metern mit der Kutsche mitgenommen wird - und das geschieht im Folgenden dann häufiger.

Dass auch die Reise mit dem Automobil, immerhin in dessen Anfangszeit, auch eine langsame, Weltaneignung durch das Schauen ermöglichende Fortbewegung sein kann, davon erzählt Otto Julius Bierbaum in seiner wohl ersten Autoreiseerzählung der Literaturgeschichte. Und dass es beim Fortgehen immer auch um die Reise an sich und weniger um das Erreichen eines Zieles geht, das zu belegen dient die immer noch bezaubernde Kindergeschichte „Oh wie schön ist Panama“ von Janosch. Immerhin sind der kleine Bär und der kleine Tiger auch zu Fuß unterwegs und entdecken ihr privates Panama sozusagen en passant. „Es ginge alles besser, wenn man mehr ginge“, hat Johann Gottfried Seume gesagt. Und vermutlich die bewährten Stiefel geschnürt.

Galerie
Bilder der Veranstaltung
Mi, 08.02.2023 | © Werner Gruban - Theaterforum Gauting e.V.