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Veranstaltungsinfo

Mi, 23.02.2022
20.00 Uhr
Literatur

15,00 / 8,00

Regulär / bis 25 Jahre

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Veranstalter: Theaterforum Gauting e.V.

Gerd Holzheimer: Mir ham! (Teil 3)

Perspektiven des Menschseins

Sprecher*in: JUDITH TOTH

Teil 3 der Literaturreihe „Mir ham! Von den Möglichkeiten des Lebens“ mit Gerd Holzheimer

An drei Abenden geht es am ersten (MI 08. DEZ 2021) um ein Lebensgefühl des „Mir ham“, nicht triumphal, jedoch voller Seins-Gewissheit. Am nächsten, Variante zwei (MI 19. JAN 2022) um ein Durchwurschteln, was nicht unbedingt das Schlechteste sein muss, und am dritten (MI 23. FEB 2022) um Perspektiven der unterschiedlichsten Art, wie man durchkommen kann, weiterkommen kann, zumeist mit einer gewissen Selbst-Distanz und Humor am besten.


Teil 3: „Vom Apostel der Nächstenliebe zum verlorenen Lächeln einer Raupe – Perspektiven des Menschseins“
 
Wie man ein Leben sich ansieht, sein eigenes, das der anderen, lebenden oder schon längst vergangenen, ist – es hört sich natürlich platt an – eine Frage der Perspektive. Gleichwohl erscheint es oft hilfreich, sich die ein oder andere anzuschauen, zur eigenen Orientierung.  Das soll an diesem Abend der Fall sein – in die verschiedensten Richtungen.

Mit Hölderlin gehen wir nach Griechenland, er lebt im Mythos der Antike, ungebrochen, er glaubt, dass wir alle einmal beisammen waren, mit den Griechen, ganz unmittelbar mit ihren Göttern, Dichtern, Philosophen: „Im Arme der Götter wuchs ich groß.“ Doch gleichzeitig vergisst er nicht, wie eigentümlich „schwer zu fassen“ das Göttliche ist, das so nah ist, weil es in uns ist: eigentlich müsste es so leicht zu spüren sein – und doch: „Nah ist / Und schwer zu fassen der Gott.“ Die Poesie wird dem Menschen zur rettenden Kraft.

Dazu passt, wie Iwan Karamasow in Dostojewskis Roman Die Brüder Karamasow den Menschen sieht: als „Probewesen“. Dieses Probewesen ist immer unterwegs, sucht sein Wesen, kommt sich abhanden und schwankt in seinem Erscheinungsbild. Das Gottesbild in Dostojewskis Figuren ist voll qualvoller Zerrissenheit: „Neben dem Zweifel an Gott besteht die Unfähigkeit nicht an ihn zu glauben.“ Die verändernde Macht des Menschen besteht in seiner Fähigkeit zum Mitleid. Fürst Myschkin in dem Roman Der Idiot: ein Apostel der Nächstenliebe.

Sehr beruhigend wirkt auch ein Blick in die Naturkunde. Zum Beispiel in das Buch Zen und die Kunst der Vogelbeobachtung von Arnulf Conradi. Er fragt nach dem Spielerischen in der Natur, an der Freude an Flugkapriolen von Vögeln, am offenkundigen Spaß etwa des Staren, andere und anderes nachzuahmen bis zum Klingeln von Straßenbahnen und Handytönen.

Erstaunliche Ruhe strahlt auch aus die Insektopädie von Hugh Raffles. Der Verfasser ist eigentlich Anthropologe, doch streift er bei seinen Betrachtungen der Insekten durch die verschiedensten Felder der Wissenschaft, Philosophie, Anthropologie, Zoologie, Wirtschaft und Populärkultur, so dass der Mensch mit einem ganz neuen Blick in Korrespondenz mit den Mitbewohnern auf diesem Planeten tritt. Er bemerkt die erstaunliche Vollkommenheit der kleinen Tiere: „In minimis tota este – In den Kleinsten ist alles“, und fühlt sich selbst in das Wesen einer Raupe hinein, wenn sie „mit einem verlorenen Lächeln schlüpft“.

Konzeption & Moderation
GERD HOLZHEIMER
Sprecherin
JUDITH TOTH

JUDITH TOTH studierte von 2000 bis 2003 Schauspiel in München und arbeitet seitdem als freischaffende Schauspielerin. 2005 wurde sie von Jochen Schölch für die Produktion Suburban Motel am Bayerischen Staatsschauspiel engagiert. Danach folgte eine weitere Produktion unter der Regie von Thomas Langhoff für das Stück Brand. Seit 2006 ist sie vermehrt am Metropoltheater in München tätig. Sie wurde mehrfach für verschiedene Produktionen ausgezeichnet, u.a. mit dem bayrischen Kunstförderpreis.
Neben mehreren Filmproduktionen, wie zum Beispiel dem Komödienstadel, ist Judith Toth seit 2017 regelmäßig in der Serie „Daheim in den Bergen“ in der Rolle der Karin Leitner zu sehen.

Nach(t)kritik
Vom Ölbaum zum Riesenrad - neue Blickwinkel
Nach(t)kritik von Sabine Zaplin

Perspektiven des Menschseins auszuloten, scheint im Angesicht gegenwärtiger Bedrohungen dringender denn je. Genau das war das Ziel des dritten Abends der literarischen Reihe  „MIR HAM!“, in der sich Gerd Holzheimer mit den Möglichkeiten des Lebens beschäftigt. Der Titel, ein die Möglichkeit des Gelingens für sich ins Auge fassender Ruf aus dem Eisstock-Sport, wird nun im dritten Teil so richtig greif- und begreifbar. In einer spielerischen Assoziationskette aus literarischen Belegen für das, was man landläufig vielleicht als Ziel bezeichnen möchte, folgen Holzheimer und die Schauspielerin Judith Toth verschiedenen Perspektiven auf Leitbilder, Lebensziele, Lesarten der Welt.

Wie ein eigenes Leitbild steht am Anfang ein Auszug aus der mittelhochdeutschen Versnovelle „Helmbrecht“, in der sich tatsächlich eine kleine Passage über jenen Zeitvertreib findet, der heute unter dem Namen Eisstockschießen bekannt ist. Dass es bei diesem Vergnügen darum geht, Nähe zu erlangen durch die Annäherung an ein bestimmtes Ziel, ist Inhalt der Verse und des ganzen Abends.

Eines dieser Ziele war im 18. und 19. Jahrhundert das klassische Griechenland, dem „mit der Seele suchend“ man sich annähern wollte. Dichter wie Friedrich Hölderlin, der selber niemals dort gewesen ist, war die griechische Götterwelt eine Heimat, die ihn herausforderte und deren Nähe er über das Dichten suchte. Ludwig I., ein über Seele und Materie das Land der Griechen stets Suchender, hat dies über das Schaffen einer greifbaren Nähe in Form von Architektur in seiner Residenzstadt zu erreichen versucht - heute würde man das vermutlich von kultureller Aneignung sprechen. Doch ist der Anblick der Bavaria über der Theresienwiese, eine bayerische Pallas Athena, gerade zu Nicht-Wiesnzeiten, eine Einladung zum Innehalten, zum Bestimmen des eigenen Standortes? Und wie außergewöhnlich gerade im Sommer der Anblick des alten Riesenrads vor der Glyptothek gewesen sei, daran erinnert sich Gerd Holzheimer lächelnd und verweist auf diesen pandemiebedingten Perspektivenwechsel, der aus der Not des verschobenen Volksfestes heraus die Stadt neu definierte.

Und weitere Perspektivenwechsel ergaben sich aus den literarischen Momenten dieses Abends: von Homer und der Rückkehr des Odysseus zum heimischen Ölbaum über besagte Griechenland-Gesänge hin zum Ölbaum im Alten Testament und von dort zu einer Schöpfungsgeschichte aus der Perspektive eines Fussball-Begeisterten bis hin zu Dostojewskis Gotteszweifeln und von dort zur Insektopädie als neue Perspektive der Nähe zu den kleinsten Mitbewohnern dieses Planeten.

Im amüsierten Plauderton warfen sich Judith Toth und Gerd Holzheimer die Bälle zu, gerade so, als entstünde die Auswahl der Literatur gerade in diesem Augenblick - fast so, als wäre es ein Eisstockspiel quer durch ein Bücherregal, aus dem scheinbar zufällig immer die am nächsten liegenden Werke fallen. Gern hört man der sehr empathisch, mit großer Leichtigkeit in die Texte eintauchenden Judith Toth und dem den Gesprächsfaden immer wieder aufnehmenden Gerd Holzheimer zu und fühlt sich anschließend mehr als eingeladen, auf die Herausforderungen der Gegenwart mit einem kräftigen „MIR HAM!“ zu antworten. Perspektiven entstehen in der Bewegung.

Galerie
Bilder der Veranstaltung
Mi, 23.02.2022 | © Werner Gruban - Theaterforum Gauting e.V.