Früher gingen die Leute in die Kirche, um sich irgendwie seelisch zu reinigen. Seit nunmehr 40 Jahren pilgern sie, zumindest in Bayern, geradezu lechzend zu Auftritten von Gerhard Polt und den Well-Brüdern. Denn nirgendwo sonst bekommen die Menschen an nur einem Abend ein warmes Gefühl von Heimat und gleichzeitig eine kritische Spiegelung dieser oft doppelbödigen Seligkeit serviert – jetzt war es zu einem "Jubiläumsabend" auch im bosco endlich wieder mal so weit, oder um es mit dem Motto des Humorfestivals Bernried aus dem Sommer zu sagen: „Obazd is‘!“
Die Choreographie bei einem solchen Polt/Well-Ereignis ist ja stets die gleiche – Musik, Textsolo, Musik, Textsolo. Oder aus Zuhörersicht: Konzentration und Erholung, Poltern und Wellness im angenehmen Wechsel. Der mittlerweile 80-jährige Gerhard Polt, äußerlich fit wie ein Turnschuh, bildet mit seinen sinnierenden Soli sozusagen das natürliche Gegengewicht zur praktizierten Instrumentenkunde der Wells, und sein Vortrag wirkt wie ein zusätzlicher Klangkörper. Mit den Jahren hat der Meister vom Schliersee seine feinen Beobachtungen zu immer neuen Typenzeichnungen und Sprachgebärden verdichtet, denn der Alpenraum, Polts bevorzugtes, unerschöpfliches Schürfgebiet, ist reich an Originalen und an Deformierten: Der luistrenkerhafte ärztliche Standesvertreter aus Tirol etwa, der nach zwei Jahren Corona-Pause erleichtert und mit vielen kehligen „ck“ verkündet, dass mit dem Wiederbeginn der Ski-Saison „Schädelbrüche wieder Aufwärtstrend“ haben. Der vor der dritten Scheidung stehende Harley-Fahrer, der es wie das Paar aus dem Erich-Kästner-Gedicht nicht fassen kann, dass seine „Liebe“ bzw. Ehe wieder mal gescheitert ist, und der dennoch alles erklärende Sätze sagt wie „Wer is‘n so bläd und nimmt sei Oide mit nach Thailand?“
Polt entdeckt in seinen Biotopen immer neue Lebewesen – den kauderwelschenden indischen Pfarrer, den es nach Bayern verschlagen hat, weil dort in den Kirchen Catholic emergency, sprich der Notfall herrscht; den ständig auf der Lauer liegenden Spießer von nebenan, der die Grill-Orgie des Nachbarn mit Drohnen-Kamera dokumentiert und beim Ministerium verpetzt, aber dort kein Gehör findet: „Ich denunziere niemand mehr!“ Aber aus diesen Charakterstudien erwächst bei Polt noch viel mehr als bloßes Gaudium, zum Beispiel die recht nachdenklich vorgebrachte Feststellung: „Wenn der Mensch in Form eines Nachbarn erscheint, ist das schon grenzwertig!“ Hier bekommt man gewissermaßen das Destillat der Polt´schen Texte. Eine axiomartige Zusammenfassung des eben Gesagten. Es dürfte hierbei auch der natürliche Lauf der Dinge sein, dass Gerhard Polt sich zunehmend und in absolut überzeugender Manier in die Rolle des alten Grüblers begibt, der das Menschliche nicht nur abbildet, sondern geradezu philosophierend ums Essentielle des Lebens kreist („Was ist Gemütlichkeit?“). Großartig die hingebungsvolle Beschreibung eines Biergartenmoments, bei dem „der Hypophyse-Lappen sich sanft im Hinterkopf wie das Segel in der Flaute“ bewegt – die Folge: Den Genuss nachempfindende Andacht im Saal.
Die „Well-Brüder aus´m Biermoos“ - Karl und Michi waren diesmal krankheitsbedingt ohne Stofferl Well angetreten, wurden dafür aber verstärkt mit Michis Sohn Matthias (Geige) und dem moldawischen Akkordeonspieler Vlad – knüpften derweil an gute alte Zeiten der „Biermösl Blosn“ an, als Bruder Hans Well noch mit von der Partie war und federführend fürs Bissig-Politische sorgte: Couplets aus dem Österreichischen und Gstanzln aus Bayern, bemerkenswert tagesaktuell von „Ibiza“ bis „Stammstrecke“. Zu Gehör kamen Drehleier, Alphorn, Quetschn und Gitarre und dann noch ein Pseudo-Instrument, das von Michi Well als „Brummtopf“ vorgestellt, mit masturbierenden Bewegungen am Kochlöffel gespielt und durch Gerhard Polt staubtrocken-soziologisch so erklärt wurde: „Man hat versucht, ein Ventil für junge Priester zu schaffen.“
Abgerundet wurde dieser vom Publikum frenetisch gefeierte Abend mit den Darbietungen von Matthias und Vlad – zu einem Folksong auf der Geige lieferte Michi Well sogar noch eine Irish Dance-Einlage. Oft wird man solche seelischen Fußbäder mit Polt und den Well-Brüdern vielleicht nicht mehr genießen können. Wenn man das alles nur irgendwie festhalten könnte – wie den Biergarten-Moment . . .